»Ein Tsunami kennt keine Schuldigen«

Horst-Eberhard Richter

Die Flutkatastrophe in Südostasien hat in weiten Teilen der Welt große Anteilnahme hervorgerufen. Warum wird diese Katastrophe stärker wahrgenommen als andere? Was löst sie in den Menschen aus, die fernab vom Katastrophengebiet leben?

Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter ist Mitbegründer der deutschen Sektion der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges) und ehemaliger Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main. Er engagiert sich seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung. Mit ihm sprach Stefan Wirner.

Nach der Katastrophe in Südostasien ist die Spendenbereitschaft in Deutschland groß. Liegt das vor allem an der Berichterstattung der Medien oder an der Art der Katastrophe?

Es liegt an der Art und an dem Umfang der Katastrophe, aber auch an den Bildern, die den Menschen gezeigt werden. Und es liegt daran, dass die Menschen tiefer bewegt worden sind als bei vielen kleineren Katastrophen. Sie sehen Massen von Toten und riesige Verwüstungen. Das ist anders als etwa nach Tschernobyl. Damals gab es nur die Bilder des kaputten Reaktors und keine von Opfern. Obwohl sich auch Tschernobyl weltweit ausgewirkt hat und langfristig große Opferzahlen zur Folge hatte.

Es gibt Katastrophen, die nicht zu einer derartigen Stimmung führen, wie wir sie jetzt erleben. Ohne diese Katastrophe verharmlosen zu wollen: Manche Hungerkatastrophe in Afrika wird weniger wahrgenommen.

Hunger und Aids sind inzwischen chronische Übel. Es werden nur gelegentlich Bilder gezeigt, auf denen man halb verhungerte Kinder sieht. Bei der jetzigen Katastrophe aber haben wir mehr als 100 000 Tote auf einen Schlag zu beklagen. Wir blicken in Massengräber und sehen kilometerweite Trümmerlandschaften wie nach Bombeneinschlägen. Das Massensterben an Hunger und Aids geschieht fast unsichtbar.

Viele andere Katastrophen sind von den Gründen her leichter durchschaubar. Tschernobyl war technisches und menschliches Versagen. Hungerkatastrophen entstehen durch Dürre, durch Bürgerkriege und durch mangelhafte Unterstützung der Armutsgebiete seitens der wohlhabenden Länder. Ein Tsunami aber kennt keine Schuldigen.

Das ist anders als etwa nach dem 11. September 2001. Da gab es Urheber, Verbrecher, die konnte man jagen, und am Ende wollte man das Unglück in einen Sieg verwandeln.

Was verändert das für die Auseinandersetzung mit einer Katastrophe, wenn man die Verursacher kennt?

Es kommt keine längere Trauerarbeit in Gang. Trauern heißt, dass man Leiden auf sich nimmt und durchsteht. Aber nach dem 11. September kam rasch der Aufruf zum Kreuzzug gegen das terroristische Böse und schürte eine patriotische Kampfesstimmung. Solche Abreaktionen macht die Flutkatastrophe nicht möglich. Die Überlebenden und das große Publikum werden innerlich aufgewühlt. Es gibt kein Ausweichen und auch keine Entlastung durch Vergeltung.

Viele Menschen spüren: Dies ist ein Signal, das uns zwingt, das scheinbar Selbstverständliche nicht mehr als selbstverständlich zu betrachten. Es stimmt nicht, dass wir im Computerzeitalter alles berechenbar machen können. Unsicherheit ist eine elementare Seite unseres Lebens. Solche Katastrophen belehren uns, dass die wichtigsten Kräfte, um so etwas zu verarbeiten, immer noch in uns selbst liegen: die Kraft zu leiden und zu trauern, zu helfen und Verantwortung zu übernehmen.

Allenthalben ist die Rede davon, die Weltgemeinschaft rücke nun näher zusammen. Aber es gab in der Geschichte immer wieder Katastrophen, und dennoch kam es nicht zu diesem Zusammengehörigkeitsgefühl.

Es ist ein Gefühl da, dass dieses Unglück tatsächlich alle angeht und dass die Überwindung der Folgen eine gemeinsame Aufgabe ist. Die Idee reift, dass wir es uns nicht mehr leisten können, ewig gegeneinander zu rüsten und die Armutsgebiete, die jetzt wieder am stärksten betroffen sind, im Stich zu lassen. Wir müssen für das gemeinsame Überleben konstruktiver kooperieren.

Zeigt die Geschichte nicht, dass die Menschen immer wieder zur Tagesordnung übergehen, spätestens wenn die materiellen Interessen aufeinanderprallen?

Es ist doch positiv, wenn die Menschen durch diese Lehre ihre Zusammengehörigkeit besser begreifen. Und es ist natürlich zu wünschen, dass dieses Bewusstsein länger vorhält. Wenn einige Länder darum rivalisieren, durch besonders aufwendige Hilfe ihr moralisches Ansehen zu erhöhen, ist das nur gut. Wenn die Amerikaner dem vorwiegend islamischen Indonesien erfolgreich helfen, tun sie gegen den terroristischen Islamismus sicher mehr als durch Kriege. Nur sollten die helfenden Länder die wichtige koordinierende Rolle der Uno beachten.

Wird nicht versucht, doch einen Schuldigen zu finden? Die USA werden bereits kritisiert, weil sie Warnungen vor dem Tsunami vorenthalten hätten und zu wenig Geld zur Verfügung stellten.

Ich glaube nicht, dass man in diesem Fall irgendeinem Land einen Schuldvorwurf machen kann. Aber man muss wachsam sein, dass diese große Hilfsbereitschaft nicht für machtpolitische Rivalitäten genutzt wird.

Werden solche Katastrophen nicht immer politisch genutzt? In der Süddeutschen Zeitung etwa konnte man einen Essay lesen, in dem es hieß: »Unsere Sorgen möchte man haben.« Hartz IV und die sozialen Probleme in Deutschland seien kleine Probleme im Vergleich zu der gewaltigen Katastrophe.

Das ist unsinnig. Die Probleme des Sozialabbaus, die Bedrohung der sozial Schwachen und die Verbreiterung der Kluft zu den Wohlhabenden kann man nicht schönreden.

Es heißt, Katastrophen nützten immer den Regierungen. Ist das so?

Wenn sich Regierungen im Managen von Katastrophen bewähren, nützt ihnen das. Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt etwa hat sich bei der großen Flutkatastrophe in Norddeutschland 1962 mit seinen Maßnahmen so ausgezeichnet, dass ihm das noch heute hoch angerechnet wird. Und wenn sich jetzt unser Kanzler an die Spitze der Geldgeber stellt, wird ihm das auch Anerkennung verschaffen. Er versteht es offensichtlich gut, auf die Stimmung in Katastrophenphasen überzeugend zu reagieren. Das war bei der Elbeflut 2002 ähnlich.

In Deutschland wurden vorige Woche drei Gedenkminuten für die Opfer des Tsunamis abgehalten. Wie muss eine Katastrophe beschaffen sein, dass es zu einem staatlichen Gedenken kommt? Liegt es daran, dass sich so viele Deutsche unter den Opfern befinden?

Immerhin sind wohl mehr als 1 000 Deutsche unter den Opfern. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass an eine mehr oder weniger patriotische Veranstaltung gedacht wird. Es ist doch spürbar ein Bedürfnis verbreitet, nicht durch Geldspenden, sondern durch irgendeinen gemeinsamen symbolischen Akt Anteilnahme zu bekunden. Aber man denkt wohl nicht nur an die Opfer, sondern zum Teil auch an die eigene Angst.

Ich merke als Psychotherapeut, dass den Menschen der Schreck in die Glieder gefahren ist. Wir sind eben alle verletzbarer, als wir glauben, auch wenn wir noch so viel für biologische Ernährung tun, für unsere Fitness, für unsere Sicherheit in der Wohnung und im Auto. Wir bleiben überall verletzbar, auch die Reichen in irgendwelchen hygienischen und geschützten idyllischen Ferienparadiesen.