Scherben, Steine, Ton

20 Jahre nach dem Ende der Polit-Kultband ist eine Best-Of-CD erschienen. ivo bozic war bei der Record Release Party in Berlin
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Etwa 400 000 Mark Schulden, und weder Herbert Grönemeyer noch Udo Lindenberg oder der ebenfalls millionenschwere Wolfgang Niedecken wollten auch nur mit einem kleinen Kredit aushelfen. Da musste man den Laden eben dicht machen. So banal endete 1985 die Geschichte der Kultband Ton Steine Scherben. 20 Jahre später sind die Jungs immer noch pleite und bringen nun aus demselben banalen Grund eine Best-Of-Platte heraus: 18 Songs aus 15 Jahren – so heißt auch die Scheibe.

Letzte Woche Freitag, Pressekonferenz in der Berliner Ufa-Fabrik: Außer dem verstorbenen Frontmann Rio Reiser und dem Schlagzeuger Wolfgang Seidel haben sich so ziemlich alle wichtigen Ex-Scherben versammelt: R. P. S. Lanrue, Kai Sichtermann, Funky K. Götzner, Nikel Pallat, Jörg Schlotterer, Martin Paul, dazwischen Rios Bruder Gert Möbius und Produzent Lutz Kerschowski. Es gibt weder die CD, die an diesem Abend vorgestellt werden soll, noch irgendeinen Zettel, auf dem zumindest die darauf veröffentlichten Songs nachzulesen wären, nichts. Auf Mikrofone wurde verzichtet, und auf Fragen antworten die Scherben fahrig und gelangweilt. Sie machen keinen besonders glücklichen Eindruck. Immerhin: Keiner von ihnen hat nach den Scherben eine große Karriere gestartet, seine Seele verkauft und in Aktien gemacht. Sie haben die Kohle ganz offensichtlich nötig. So ist denn auch das einzige, was bei dieser absurden Pressekonferenz rüberkommt, dass Lanrues Haus in Portugal abgebrannt ist, dass der Mann alles verloren hat und nun gucken muss, wie er über die Runden kommt.

Aber das soll jetzt nicht zynisch klingen. Es gibt kaum einen besseren Grund, eine Scherben-Best-Of herauszugeben, als noch mal ein wenig Geld zu machen, um in Würde altern zu können. Es sei den Jungs von ganzem Herzen gegönnt. Wirklich! Sie hätten das ja auch politisch begründen können. Schließlich haben die Scherben damals, wie es Rio einmal formulierte, den »Soundtrack für eine Generation« gemacht. Sie hätten auch sagen können: »Die neue Anti-Globalisierungsbewegung braucht wieder einen Soundtrack, deshalb haben wir uns entschlossen …«, nein das haben sie nicht, und das ist gut so. Auf meine Frage, für wen denn die neue Platte gemacht sei, antwortet Funky etwas entrückt, dass Themen wie Freiheit und Liebe auch noch in 1 000 Jahren aktuell seien, und die Zeiten seien ja auch nicht gerechter geworden. Hmm.

Aber wir erfahren noch etwas, bevor die Record Release Party ohne Record losgeht: In den letzten sechs Jahren haben Möbius und Kerschowski »über tausend« Tonbänder aus Scherben-Zeiten durchgehört und digitalisiert. Da sei noch jede Menge Material für weitere Veröffentlichungen, erklärt uns Möbius. Mindestens die fünf Scherben-Platten (die sechste war das Live-Album von 1984) sollen neu abgemischt und remastered werden. Eventuell könnte aber auch noch völlig »neuer« Stuff auf den Markt geworfen werden. Bereits 1991 hatte die David-Volksmund-Produktion, das Scherben-eigene Label, alle LPs auf CD neu herausgegeben. Und schlecht gelaufen ist der Verkauf nie.

Ich besitze sämtliche Scherben-CDs, auch die ziemlich unbekannten Gemeinschaftsproduktionen mit der Schwulen-Combo Brühwarm. Rio hat sie mir 1992 geschenkt. Er drückte sie mir beim Abschied in die Hand, nachdem ich ihn in Fresenhagen interviewt hatte. Er war nach all den Jahren immer noch richtig stolz auf das Werk, und es war ihm gleichzeitig ein wenig peinlich, dass das in dieser Situation nicht ganz unbemerkt bleiben konnte. Immerhin besitze ich also sozusagen alles, was sich ein Scherben-Fan nur wünschen kann. Was soll ich mit einer Best-Of?

Aber gut, schauen wir uns die Produktion einmal an: Überraschungen fehlen. Immerhin wurde auf einige Gassenhauer wie »Die letzte Schlacht gewinnen wir« und »Wenn die Nacht am tiefsten ist« verzichtet. Zugunsten einiger unbekannterer Stücke wie »Samstagnachmittag« oder »Regentag«. Die beiden wirklich ultimativ besten Scherben-Songs sind aber dabei: »Jenseits von Eden« und »Durch die Wüste«, und natürlich Polit-Hymnen wie »Keine Macht für Niemand« und der »Rauch-Haus-Song«. Wohl unvermeidbar, wegen der kaufkräftigen Teenies: der PC-Bagger-Song »Komm, schlaf bei mir«. Die Idee, megaplatte Anmachsprüche zu vertonen, hat Rio später in seinen Soloalben ambitioniert fortgesetzt (»Sonnenallee«, »Nimmst du mich mit?«, »Mitten in der Nacht« usw.). Vielleicht doch eine Überraschung ist, dass »Der Traum ist aus« fehlt. Gut so! Dieser Hippie-Kitsch gehört nun wirklich nicht mehr in das aktuelle Jahrtausend.

Ufa-Fabrik, Party: Die Ufa-Fabrik, das ist so etwas wie Klein-Christiania für Zitty-Leser. Bei der Party im Theatersaal bin ich einer der Jüngeren. Es spielen eine absolut sympathische Keimzeit-Kopie namens Werner Bettge und danach ein Stoppok-Cover-Mann namens Dany Dziuk, später sollen noch Freygang und andere auftreten. Auch im Publikum: nur nette Menschen. Wir könnten uns auch im Tempodrom, in der Kulturbrauerei oder in der taz-Kantine befinden, in irgendeinem besenreinen Objekt der Berliner Alternativ-Szene also. Aber eben nicht im SO 36, zum Beispiel. Alles zu brav: die Leute, das Ambiente. Aus der aktuellen politischen linken Szene ist kein Mensch gekommen. Hier versammelt sich das Gutmenschentum, die Gefühlslinken, die Bauch-Anarchisten. Für diese braven Leute sind die Scherben der Soundtrack für ihre wilden Träume.

Aber stopp! Ich tue den Menschen unrecht. Viele sind schon grau, und wer weiß, wie ich mit 50 aussehen werde. Und es sind vermutlich genau jene, die damals die rebellische Generation dargestellt haben, die in den Scherbensongs weiterlebt. Im Grunde genommen kann man froh sein, wenn man sich wenigstens so hält, wie diese alten Bart- und Lederjackenträger. Und immerhin: keine jungen Palituch-Zecken, keine peinlichen Punk-Darsteller, keine kleinen Che Guevaras, keine Rotfront-Stimmung. Ich bevorzuge inzwischen Leute, denen man nicht auf den ersten Blick ihre komplette Lebenseinstellung ansieht.

Vor 13 Jahren fragte ich Rio, was er von der damals aktuellen Hausbesetzer- und Autonomenszene denke. Die Ideen und die Weltsicht seien »sehr verwandt«, antwortetet er: »Ich habe aber schon zu viele Pferde kotzen sehen vor der Apotheke.« Viele Leute hätten sich ihre zerrissene Jeans ausgezogen und seien plötzlich ganz woanders gewesen. »Solange das ’ne Mode ist, also – wie mal ganz böse gesagt – schaffe, schaffe, Häusle b’setze, solange das nicht mehr als ’ne Altersfrage ist, kann ich’s nicht ernst nehmen.« Für Rio war es ernst. Zu oft hatten ihn die Bullen morgens mit der Knarre vor seiner Nase geweckt. Auch der ARD-Tatort, in dem er später mitspielte, behandelte dieses Thema. Das Titellied dazu ist einer der besten Rio-Songs, nein, es ist sogar der beste: »Träume«. Der Refrain: »Die Zeit vergeht und so viel bleibt im Straßenstaub, wird uns fremd, wie ein Bild von Daheim. Alles längst verschwunden, alles überwunden, und doch war da viel mehr als ein Spiel.«

Positiv zu erwähnen wäre übrigens noch, dass die neue Best-Of-CD in einer einfachen Papphülle geliefert wird und in ihrer Schlichtheit an die erste, 1971 erschienene Platte erinnert. Damals mussten die Scherben in ihrer WG am Tempelhofer Ufer alle Pappdeckel eigenhändig mit Heftklammern zusammentackern. Übrigens exakt in derselben Wohnung, in der im Sommer 1997 die ersten Jungle-World-Ausgaben konzipiert und produziert wurden. Wer weiß, in 20 Jahren sitzen vielleicht ein paar graue Jungle-Veteranen im bis dahin besenreinen SO 36 und stellen ihre Best-Of-Jungle vor. Und dann wollen wir schließlich auch keine Häme hören.