Wo ist zu Hause, Mama?

Ömer Erzeren porträtiert Eingewanderte und Ausgewanderte, Schwule, Behinderte, Dicke, Alte und Konvertierte aus Deutschland, Kurdistan und der Türkei. von andreas fanizadeh

In einer Filiale von Lidl in Berlin-Kreuzberg steht ein zwei Meter großer uniformierter Wachmann. Der Riese nennt sich Omar und grüßt die KundInnen freundlich auf Arabisch oder Türkisch. Das Erstaunliche ist: Omar lebte bis vor kurzem im ostdeutschen Guben und hieß Thomas. Im Jahr 1999 wurde in Guben der Algerier Farid Guendoul in den Tod gehetzt. Auf der Flucht vor Jungnazis sprang er durch eine Glastür und verblutete. Thomas kannte Farid von seiner Arbeit als Wachmann im Gubener Asylwohnheim, die Täter kannte er aus seiner wenig glücklichen Schulzeit.

Thomas, der Wachmann aus der brandenburgischen Provinz, wurde vor drei Jahren ins multinationale Berlin versetzt. Die Aussicht auf Veränderung hat ihm zunächst gar nicht gefallen. Doch die Furcht wich der Neugier. Thomas konvertierte zum Islam und ist als Omar heute eine Kreuzberger Institution. Auch Arbeitgeber und seine ostdeutsche Familie haben sich mit dem Konvertiten inzwischen arrangiert.

Ömer Erzeren schildert in »Eisbein in Alanya« Menschen, die sich auffällig durchs Leben bewegen. Die einen gingen aus der Türkei nach Deutschland, die anderen zogen von Deutschland in die Türkei. Die einen sind viel zu dick, behindert oder alt, die anderen geraten als Schwule, Lesben oder wegen ihrer politischen Orientierung in Konflikt mit den sie umgebenden Konventionen.

Nazmiye ist mit 18 Monaten an Kinderlähmung erkrankt, seither ist die heute 46jährige gehbehindert. Sie wuchs im türkischen Zeytinburnu auf, wurde auf dem Schulweg mit Steinen beworfen und nicht einmal von der eigenen Mutter geschützt. Dennoch konnte sie sich von Armut, Scholle und Elternhaus befreien. Sie zog in die Stadt, besuchte die Universität, wurde Ingenieurin – und muss dennoch als Verkäuferin arbeiten. Im »aufgeklärten« Istanbul lässt sich selbst der eigene Sohn nicht gerne mit der Hinkenden in der Öffentlichkeit sehen.

In der türkischen Gesellschaft erlebt man Unglaubliches, berichtet Nazmiye. Eine Behinderung gilt vielen immer noch als Strafe Gottes. »Manchmal weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Ich hatte mich mit Freunden in einer Kneipe am Fischmarkt getroffen und machte mich auf den Weg zu meinem Auto. Zwei Besoffene kamen mir entgegen. Einer der Besoffenen drehte sich zu mir um und sagte: ›Ich möchte dich ficken.‹ Ich machte mir nichts draus und ging meines Weges. Als ich mich ins Auto setzte, kam der andere Besoffene, sichtlich erschüttert: ›Tut uns Leid, Schwester. Mein Kumpel ist betrunken. Er hat nicht gesehen, dass du ein Krüppel bist.‹«

»Eisbein in Alanya« ist kein multikulturalisierendes, kollektivierendes Geschwafel. Ob in Istanbul oder Berlin, Erzeren nähert sich den Gesellschaften vom Rande her und zerlegt sie in die Vielheit individueller Biografien. Der schwule Künstler im kurdischen Arbeiter- und Bauern-Klub muss in Istanbul ebenso Hindernisse aus dem Weg räumen wie die bekennende Lesbe im Einwanderermilieu von Berlin-Kreuzberg oder die deutsche Behinderte in der Schule in Deutschland. Es sind oftmals sehr harte Lebensläufe, die Erzeren schildert, ähnlich jenen, die Fatih Akin in seinem preisgekrönten Film »Gegen die Wand« darstellt. Akin und Erzeren sprechen von der biografischen Ausnahme als gesellschaftlicher Regel, auch wenn sie dafür ästhetisch zu unterschiedlichen Mitteln greifen.

Der Erzähler Erzeren nimmt sich weit zurück und ist sparsam in seinen Kommentierungen. Er bringt die gesellschaftlichen »Abweichler« zum Reden und gibt deren subjektive Sicht wider. Bestürzend sind die Erfahrungen, die viele EinwandererInnen mit deutscher »Leitkultur« und »Patriotismus« machten. Samira, Mutter Deutsche, Vater Syrer, wuchs relativ integriert im westdeutschen Wolfsburg auf. Mit 16 Jahren beschloss sie, ein Kopftuch zu tragen. Der Umzug ihrer Familie ins ostdeutsche Neukarow geriet dann zum Fiasko. In der Schule wurde sie von Lehrern ignoriert, von SchülerInnen beschimpft. Ihr Bruder wurde tätlich attackiert. Die Familie floh schließlich nach Berlin-Kreuzberg.

Wie ihm aber ausgerechnet dort, in Berlin-Kreuzberg, die Wohnung von nazistischen Nachbarn angezündet wurde, berichtet Ercan in einem anderen Porträt Erzerens. Ercan kam als politischer Flüchtling 1982 in die Bundesrepublik. Seine Versuche, in der deutschen Linken Fuß zu fassen, waren vergeblich. Liebesbeziehungen waren ebenfalls schwierig, auf die Ausländerbehörde ging es anfangs im 15-Tage-Rhythmus (und das wie auch heute noch zumeist ohne Termin, um fünf Uhr morgens vor der Behörde in der Schlange anstehen, irgendwann eine Nummer ziehen usw.).

Er brachte es bei Siemens bis zum Vorarbeiter. Heute jobbt er als Sozialarbeiter, lebt mit Frau und Kind. Ob er’s in Deutschland geschafft hat? Schwierige Frage. Als ihm 1990 die Wohnung in Berlin angezündet wurde, habe sich die Polizei desinteressiert gezeigt. Die Ermittlungen seien nach sechs Monaten ohne Ergebnis eingestellt worden. »Ich habe hier gelernt, dass man nicht in diese Gesellschaft gehört.« Es gebe eine Hand voll Freunde, die ihn nicht als Türken, sondern als Ercan sehen, seine »kleine Insel des Glücks«.

Ein kleines Meisterwerk ist Erzerens Recherche in der deutschen Gemeinde von Alanya. Die 120 000 EinwohnerInnen zählende Stadt an der türkischen Mittelmeerküste wurde in den letzten Jahren zum Anziehungspunkt deutscher EmigrantInnen. Über 7 000 Deutsche sind dort als EigentümerInnen von Immobilien im Grundbuch ausgewiesen. Sie kamen wegen des angenehmen Klimas und der besseren materiellen Möglichkeiten hierher, aus Neugier, Zufall, Liebe. Von einer deutschen ArbeiterInnenpension lebt es sich in Alanya nicht schlecht, umgekehrt hat der Ort vom relativen Wohlstand der Zugezogenen profitiert. Besonders auffallende Konflikte gebe es keine, sagt der Bürgermeister.

Willi, Wirt des Coco-Beach, lässt sich das Eisbein von einem Dortmunder Stammkunden aus Deutschland mitbringen. Zusammen mit Lebensgefährtin Conny versorgt Willi die deutschen TürkInnen in Alanya mit einer Parallelkultur, an der die türkischen TürkInnen offenbar keinen größeren Anstoss nehmen. Im Coco-Beach geht es auf einer Pyjamaparty hoch her. »Der Sänger will die Gäste in Stimmung bringen: ›Arme hoch, Beine ausstrecken. Los! Los! Los! Zickezackezickezacke.‹« Erzeren berichtet davon ohne Spott und Dünkel.

Alanya und die restliche Türkei sind keine heile Welt. Und Erzeren will ausdrücklich keinen Nationenvergleich anstellen. Die westeuropäischen Freunde der Integrationsdebatte könnten sich allerdings schon einmal fragen, warum die Autos von dauerhaft in der Türkei lebenden AusländerInnen – sie sind an der Buchstabenkombination MA im Kennzeichen zu erkennen – nicht »abgefackelt« werden, wie dies in manchen Regionen Nord- und Westeuropas unter anderen Vorzeichen ziemlich sicher geschehen würde. »Eisbein in Alanya« ist eine deftige Haxe für Gemütseuropäerinnen und Überzeugungschristen, aber auch für solche, die es nicht werden wollen.

Ömer Erzeren: Eisbein in Alanya. Erfahrungen in der Vielfalt deutsch-türkischen Lebens. Edition Körberstiftung, Hamburg 2004. 220 S., 14 Euro