Überstunden ohne Grenzen

Frankreichs Regierungspartei will Teile der Gesetzgebung zur 35-Stunden-Woche rückgängig machen. Alle sind dagegen. von bernhard schmid, paris

Das Frankreich, das Nein sagt«, blickte einem am vorigen Samstag vom Titelblatt der Boulevardzeitung France Soir entgegen. Am folgenden Tag lautete die Schlagzeile der Sonntagszeitung JDD: »Das Frankreich, das knurrt«.

50 000 Leute waren am Samstagnachmittag in Paris auf den Beinen; insgesamt waren es 400 000 in ganz Frankreich, wo Demonstrationen in 118 Städten stattfanden. 69 Prozent der Franzosen unterstützten laut einer Umfrage die Protestzüge. Nur elf Prozent waren »ablehnend« oder »feindlich« eingestellt, der Rest hatte erst einmal keine Meinung.

Anlass für den Protest war die Gesetzesvorlage der konservativen Regierungspartei UMP zur Arbeitszeitverlängerung, die gestern verabschiedet werden sollte. Tritt sie in Kraft, dann wird es in Frankreich kaum noch rechtliche Obergrenzen für das Ableisten von Überstunden geben. Die vom Gesetz vorgesehene theoretische Obergrenze wird auf 220 Überstunden pro Jahr angehoben; vor wenigen Jahren lag sie bei 130.

»Freiwillig« mehr arbeitende Lohnabhängige können diese gesetzliche Grenze für Überstunden zukünftig auch überschreiten, was bisher unzulässig war. Ferner entfällt der bisher obligatorische Freizeitausgleich: Die auf einem »Zeitkonto« registrierten Überstunden können künftig auch ausbezahlt statt durch Freizeit ausgeglichen werden. Musste das Zeitkonto bislang innerhalb von fünf Jahren geleert werden, so kann es zukünftig auf unbestimmte Zeit aufgefüllt werden. Lohnabhängige, die um die Zukunft ihres Arbeitsplatzes oder um die Höhe ihrer späteren Rente fürchten, können es also über etliche Jahre hin auffüllen, das Geld wird vom Unternehmen für sie angespart. Was passiert, wenn das Unternehmen Pleite geht, dürfte zukünftig noch ein heikles Problem darstellen.

Dass es dagegen ein massenhaftes Aufbegehren geben würde, war dennoch nicht von vornherein sicher. Denn die »Reform« der sozialdemokratischen Regierung Lionel Jospins vor sechs Jahren, mit der schrittweise die 35-Stunden-Woche als theoretische Arbeitszeitnorm eingeführt wurde, bleibt vielen Lohnabhängigen in schlechter Erinnerung. Die Verkürzung der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit bildete damals nämlich den Zuckerguss, der die gleichzeitig verabreichte bittere Pille in Gestalt von Jahresarbeitszeiten und nach Bedarf der Betriebe variierenden Arbeitswochen überdecken sollte. Doch die jetzige Regierung will lediglich den Zuckerguss entfernen und die bittere Pille weiterhin verordnen.

Dass eine scheinbare Verteidigung der Reform – die ihrerseits bereits Bestandteil der neoliberalen »Modernisierung« war – nicht unbedingt Begeisterung hervorrufen würde, befürchteten die Gewerkschaften. Deswegen ging es in den Demonstrationsaufrufen am vergangenen Wochenende auch um mehrere Interessen: »Gegen Arbeitszeitverlängerung und Beschäftigungsabbau, für höhere Löhne und gegen die Aushöhlung des Arbeitsrechts«.

Zugleich sollte damit der Regierungspropaganda etwas entgegengesetzt werden. Die Kaufkraft der Privatbeschäftigten ist seit 2000 um zwölf Prozent gesunken und die Regierung versuchte, die Geldnot vieler Lohnabhängiger auszunutzen, um ihnen folgendes Rezept anzubieten: »Mehr arbeiten, um mehr Geld zu verdienen.« Darauf fielen die meisten Beschäftigten dann doch nicht herein, da sie wohl wussten, dass es der rechten Regierung weniger um ihr Wohl als um das der Arbeitgeber geht.

In den nächsten Tagen wollen mehrere Gewerkschaften sich über weitere Aktionen, auch in den Betrieben, verständigen.