Zurück zur Natur

Asylsuchende in den neuen Bundesländern wurden gern in »Dschungelheimen« fernab jeglicher Infrastruktur untergebracht. Weil weniger Menschen nach Deutschland kommen, sind viele der Sammelunterkünfte inzwischen geschlossen. von martin kröger (text) und tim zülch (fotos)

Für ein Bett fehlt der Platz. »Nachts funktioniere ich den Teppich zur Schlafstätte um«, erklärt Akubuo Chukwudi. Dort, wo er nachts schläft, werden jetzt Kakao und Kekse serviert. Erst vor einem Monat hat Chukwudi aus Nigeria sein Zimmer im neuen AsylbewerberInnenheim im mecklenburgischen Parchim bezogen, obwohl die liebevolle Einrichtung wirkt, als wohne er schon viel länger hier. In der riesigen Schrankwand stehen eine Musikanlage, zwei Fernseher und Videorekorder sowie zwei Kupferstiche, die Szenen aus dem Leben von Jesus Christus zeigen. Darunter befindet sich ein beleuchtetes Aquarium, das mit Plastikteilchen gefüllt ist. Der letzte echte Goldfisch sei schon vor längerer Zeit verschenkt worden, erzählt Chukwudi. Gegenüber den Jesus-Insignien kleben politische Plakate. »Weg mit den rassistischen Sondergesetzen« steht darauf oder »Solidarität mit den Verschwundenen«.

Das Zimmer ist voll mit Erinnerungsstücken und Trash aus knapp zwölf Jahren Aufenthalt in deutschen AsylbewerberInnenheimen, die Akubuo Chukwudi inzwischen hinter sich hat, seit er im Jahr 1993 wegen seiner politischen Aktivitäten gegen die Militärdiktatur aus Nigeria fliehen musste.

»Als ich hierher kam«, sagt Chukwudi, »wusste ich nichts von Asyl, ich hatte mich auch um kein Visum bemüht. Ich hoffte einfach, einen Raum wie diesen hier zu finden, den ich bezahlen und in dem ich meine Ruhe haben könnte.« So wie in Nigeria: »Wenn du eine Wohnung vorweisen kannst, lassen dich alle zufrieden.« Aber in Deutschland begann ein »neues Drama«, wie er es selbst bezeichnet, die unendliche Geschichte seiner Unterbringung in Heimen für Asylsuchende.

Von Hamburg aus, wo er seinen Asylantrag stellte, wurde Akubuo Chukwudi nach Boizenburg an der Elbe gebracht. Über Umwege ging es weiter nach Peeschen, rund 35 Kilometer östlich von Parchim, in Mecklenburg. Peeschen ist der Name einer alten Kinderferiensiedlung aus DDR-Zeiten, die rund fünf Kilometer abseits jeglicher Zivilisation mitten im Wald liegt. »Als ich nach Peeschen kam, gab es keine asphaltierte Straße, die Elektrizität funktionierte nicht richtig, die gesamte Infrastruktur der Unterkunft war zusammengebrochen«, erzählt Chukwudi. Er konnte kaum seinen Augen trauen: »Was ich sah, war Dschungel«, sagt er. »Ich war im deutschen Dschungel angekommen, und mir war sofort klar, dass ich hier niemals bleiben könnte.«

Bevor Akubuo Chukwudi den Kampf gegen die Verhältnisse im »Dschungelheim« aufnahm – so nannten es die BewohnerInnen –, probierte er noch einen anderen Weg: den der »Illegalität«. An die Zeit denkt er deshalb gern zurück, weil er viele Kontakte zu Menschenrechts- und Flüchtlingsgruppen sowie zu antirassistischen Organisationen wie dem Hamburger Flüchtlingsrat knüpfen konnte. »Das war der Start. Wir begannen, die Belange von Flüchtlingen in diesem Land zu diskutieren und die Selbsthilfe zu organisieren«, erzählt er. Dann aber verließ Akubuo Chukwudi das Glück wieder. Die Polizei fasste ihn in seiner Zufluchtsstätte. Es folgten fünf Monate Knast und Misshandlungen durch Gefängnisangestellte. Dann, 1996, erfolgte der erste Versuch der Behörden, in Kooperation mit der nigerianischen Botschaft die für seine Abschiebung notwendigen Papiere zu beschaffen.

Heute, knapp zehn Jahre später, droht ihm bereits zum fünften Mal die Abschiebung. In den Jahren dazwischen setzte sich Chukwudi immer wieder für die Rechte der Asylsuchenden ein. Er beteiligte sich an Aktionen der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen, an den Kampagnen gegen die Residenzpflicht sowie an der antirassistischen Antilager-Tour im vorigen Jahr, die auch einen Stopp bei den »Dschungelheimen« einlegte.

Akribisch hat Chukwudi diese Zeit dokumentiert. Links über dem Aquarium auf dem Schrank stehen Reisetaschen und Koffer, prall gefüllt mit Artikeln aus hunderten von Zeitungen sowie seinen Korrespondenzen mit Landtagen, dem Bundestag, amnesty international und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Allen hat er versucht zu erklären, was es für AsylbewerberInnen bedeutet, im verhassten »Dschungel« zu leben. Denn dorthin musste Akubuo Chukwudi 1996 zurück, nachdem ihn die Polizei in Hamburg, wo er sich offiziell nicht aufhalten durfte, geschnappt hatte. Zurück nach Peeschen, der Behausung im mecklenburgischen Wald, wohin kein Bus fuhr und sich außer den Flüchtlingen und ihren SozialarbeiterInnen niemand verirrte. Zurück dorthin, wo der nächstgelegene Supermarkt eine Stunde Fußmarsch entfernt lag und die Einheimischen sich fragten, woher denn wohl die Flüchtlinge kamen, die ab und zu im Laden einkauften.

Viele Minuten Fahrtzeit zieht sich der schmale, nur mit einer provisorischen Asphaltschicht bedeckte Weg durch die leicht hügelige Mecklenburger Landschaft. »Akubuo Road« müsste die Straße eigentlich heißen, meint Akubuo Chukwudi, denn nur weil die Flüchtlinge protestierten, wurde sie überhaupt geteert. Bis zum Jahr 1998 führte lediglich ein Feldweg zu dem ehemaligen Kinderferienheim. Auf den letzten Metern versperrt ein quer liegender Baum die »Akubuo Road«. Seit März 2004 ist das Heim Peeschen geschlossen. Auch die anderen »Dschungelheime« im Parchimer Landkreis wurden von der rot-roten Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern dichtgemacht, zuletzt die ehemalige Kaserne in Tramm.

Vor dem leer stehenden Ensemble von Baracken angekommen frösteln Chukwudi und sein kurdischer Begleiter Farrad Kilic. »Hier ist es immer kalt«, sagt Chukwudi. »Das ist wegen der Tallage«, meint Kilic, nur wenige Stunden am Tag scheine die Sonne in den waldgesäumten Kessel, weswegen es selbst im Sommer nicht warm werde. Und still ist es, außer einem Vogel rührt sich nichts. Nur die fein säuberlich aufgereihten Mülltonnen erinnern daran, dass hier über ein Jahrzehnt lang Flüchtlinge aus der ganzen Welt leben mussten.

Neben einigen im Wald verstreuten Bungalows besteht das Heim aus zwei lang gestreckten Baracken mit dünnen Pappwänden, die auseinander fallen, sobald man dagegen tritt. Eine ebenfalls längliche, an einen Appellplatz erinnernde Freifläche bildet das Herzstück der Anlage. In einer Ecke rostet eine Kinderwippe vor sich hin. Spielmöglichkeiten gab es kaum, selbst kicken konnte man schlecht auf dem von Wurzeln durchzogenen Boden.

»Über 3 000 Menschen habe ich hier über die Jahre kennen gelernt«, sagt Chukwudi auf dem Rundweg durch die ehemalige Sammelunterkunft. Sie kamen und gingen. Zu Beginn, Anfang der neunziger Jahre, kamen viele, und viele wurden in der Nacht von der Polizei abgeholt, um abgeschoben zu werden. Gegen Ende der Neunziger gab es immer weniger Neuzugänge, doch die Polizei kam weiterhin nachts. Sie kam ausschließlich nachts, um den Widerstand gegen die Abschiebungen zu erschweren und damit die Kinder nichts mitbekamen. In Hochzeiten waren 450 Personen in Peeschen untergebracht.

Chukwudi erzählt, wie es damals zuging im »Dschungelheim«. Er zeigt die völlig vergammelten sanitären Anlagen, die nur selten funktionierenden Duschen, die Toiletten und Pissoirs, die einst extra niedrig für Kinder angebracht worden waren. Er berichtet von den ständigen Problemen mit dem Strom und der Heizung, die oft nur für wenige Stunden am Tag ihren Dienst taten. Chukwudi zeigt den »Waldsee« kurz hinter der letzten Baracke, der entstand, weil alle Abwässer des Heims einfach dorthin geleitet wurden.

Jetzt stehen die Baracken leer, überall sind Scheiben eingeschlagen und Türen eingetreten, Heizungsrohre abgerissen. Aus den Wänden hängen Stromkabel, an einigen Stellen kommt die Decke herunter. An allen Ecken und Enden schimmert schwarz-grün der Schimmel, den es hier auch schon gab, als die Flüchtlinge noch hier leben mussten. Ein starker modriger Geruch hängt in den Räumen und dreht einem den Magen um.

Nur einmal während der Runde muss Akubuo Chukwudi schmunzeln, als er sein altes Zimmer wieder entdeckt, gut zu erkennen an den vielen Aufklebern an der Eingangstür. »Kein Mensch ist illegal!« und »Fort mit dem Faschismus!« prangt da. In der Mitte der Tür klafft ein Loch. »Da wollte mir mal ein anderer Asylbewerber an die Wäsche«, erzählt er. Nervenzusammenbrüche, Krisen und Gewaltsituationen gehörten in Peeschen zum Alltag. Nachdem er sich gemeinsam mit Anderen für die Schließung des Heims eingesetzt hatte, sei er zur Zielscheibe geworden, sagt Chukwudi. »Eines Abends, im Sommer 1999, hat jemand versucht, mein Zimmer und die ganze Baracke anzuzünden, indem er einen brennenden Stofffetzen durchs Fenster auf das Bett warf.« Nur durch Zufall konnte der Brand gelöscht werden. Die Polizei fand nie heraus, wer der Täter oder die Täterin war. »Der Einzige, den ich nach der Flucht draußen antraf, war der Wachmann, und der will nichts gesehen haben«, berichtet Chukwudi. »Wahrscheinlich war es der Wachmann selbst«, spekuliert er. Immerhin hätten seine Aktivitäten die SozialarbeiterInnen und Sicherheitskräfte den Job gekostet. Das sei angesichts des Alters der Betreffenden und der Arbeitsplatzsituation in der Region kein zu unterschätzendes Tatmotiv, mutmaßen Chukwudi und Kilic.

»Wie viele Leute kamen hierher, weil sie dachten, Deutschland sei ein Paradies«, merkt Kilic an. »Dabei gab es nur Füchse, Rehe und Wildschweine.« »Selbst ein Telefon gab es über Jahre nicht, dafür mussten wir hart kämpfen«, erzählt Chukwudi. Im Innern der Hauptbaracke hängen Kabel aus der Buchse, gleich neben dem Logo der Deutschen Telekom. Hier und da finden sich Kritzeleien der ehemaligen BewohnerInnen. »Albany!« steht da. »Kinderzimmer ist geil!« lautet die einzige Botschaft, die die kleinsten der Flüchtlinge in ihrem Spielzimmer hinterlassen haben.

Seit März 2004 leben keine Flüchtlinge mehr im Dschungel von Peeschen. Bereits in der Koalitionsvereinbarung aus dem Jahr 1998 hatten die SPD und PDS vereinbart, alle Gemeinschaftsunterkünfte für AsylbewerberInnen außerhalb von Wohngebieten wegen der anhaltenden Proteste zu schließen. Eine Besetzung der »Akubuo Road«, die sich die Flüchtlinge als letztes Mittel des Widerstands vorgenommen hatten, musste nicht mehr in die Tat umgesetzt werden.

Dass die mecklenburgische Landesregierung die abgeschiedenen Heime schließt, ist kein reiner Akt der Menschlichkeit. Nur wenige Menschen schaffen es überhaupt noch, nach Deutschland zu kommen, um hier Asyl zu beantragen. 32 864 Menschen stellten von Januar bis November 2004 einen Asylantrag. Damit rangiert die Bundesrepublik nicht nur im hinteren Mittelfeld der EU-Länder, sondern unterbietet die niedrige Zahl des Vorjahres noch einmal um satte 30 Prozent.Es ist die niedrigste Zahl seit 1984. Zum Vergleich: Im Jahr 1992 beantragten über 400 000 Menschen die Aufnahme. Der starke Rückgang wirkt sich auf die Art der Unterbringung aus. Und das nicht zum Besten der Flüchtlinge.

»Die gemeinnützigen Träger werden immer mehr rausgedrängt. Übrig bleiben die billigen Anbieter«, fasst Bernd Mesovic, politischer Referent bei der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl, zusammen. Bis heute gebe es keine adäquaten Standards für die Unterbringung in Sammelunterkünften, die in der ganzen Republik gelten. Je nach Landesregierung fällt die Unterbringung demnach auch verschieden aus. Während es in Berlin, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen schon seit längerer Zeit üblich ist, Flüchtlinge vornehmlich in privaten Wohnungen unterzubringen, bevorzugen Länder wie Bayern gerade wieder die zum Teil leer stehenden staatlichen Sammelunterkünfte.

Viele Flüchtlinge mit dem Status der Duldung, die nicht abgeschoben werden können und schon viele Jahre in Bayern leben und arbeiten, erhalten zur Zeit schriftliche Aufforderungen, in die Großunterkünfte zurückzukehren. »Heim auf Lebenszeit«, nennt Bernd Mesovic von Pro Asyl diese Politik angesichts der noch immer ausstehenden Bleiberechtslösung für Flüchtlinge mit dem Status der Duldung.

Zur Begründung ihrer Politik führt die bayerische Landesregierung die Wirtschaftlichkeit ins Feld. Gemeinschaftsunterkünfte seien billiger zu betreiben. Mit demselben Argument weist die Berliner Regierung Flüchtlingen Privatunterkünfte zu. Zahlen über die Kosten der Unterbringung in einzelnen Heimen sind nicht zu erfahren. Die Betreiberverträge unterliegen nicht ohne Grund dem Datenschutz. In den achtziger Jahren und zu Beginn der neunziger Jahre sei das »ein hoch korrupter Bereich« gewesen, sagt Bernd Mesovic. Heruntergewirtschaftete Hotelketten hätten etwa zu dieser Zeit Flüchtlingsunterkünfte in Hessen angeboten, um mit Hilfe der Einnahmen an Kredite zu kommen, die ihnen die Banken sonst verwehrt hätten. »Dieselben Hotels sind heute gut funktionierende Wellness-Paradiese«, berichtet Mesovic, aufgemotzt mit dem Geld aus dem Asylgeschäft. Erst nachdem der hessische Rechnungshof im Jahr 1993 die Herabsetzung der Pauschalen pro Flüchtling angemahnt hatte, verlor das Business an Bedeutung.

Nach der Wiedervereinigung ging es im Osten ähnlich zu wie im Westen bis 1993. Über »Hinterzimmerverträge« sei oft die Nutzung ganzer Feriendörfer und Militärgelände samt Belegschaft für die Unterbringung von Flüchtlingen geregelt worden. Diese eigneten sich besonders für die Kontrolle und die Greifbarkeit der Flüchtlinge. Statistiken und Zahlen über die Art der Unterkünfte in den einzelnen Bundesländern und deren Qualität gibt es allerdings nicht. Fest stehe nur, »dass bei den derzeitigen Schließungen wieder mal die Interessen der Betroffenen gar nicht berücksichtigt werden«, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl.

Von außen wirkt die neue Unterkunft der Flüchtlinge in Parchim durchaus ansprechend. Dennoch wollten die Flüchtlinge lieber in den Wohnungen eines leer stehenden Plattenbaus in einem nahe gelegenen Dorf untergebracht werden. Daraus wurde nichts, weil die Dorfbevölkerung samt Bürgermeister Widerstand dagegen ankündigte.

Viele ihrer aktuellen Probleme haben aber auch schlicht nichts mit der Unterkunft zu tun. Derzeit geht es den Flüchtlingen darum, den Heimleiter loszuwerden. Es sei der gleiche, der sie bereits in Peeschen seit Jahren schlecht behandelt und seinen WidersacherInnen mit Abschiebung gedroht habe. Der »Tag der offenen Tür« Ende Januar, an dem LokalpolitikerInnen einen Blick auf das neue Heim werfen wollten, wurde von den politisch aktiven Flüchtlingen um Akubuo Chukwudi boykottiert, weil sie nicht in die Vorbereitungen einbezogen worden waren. Sie kritisieren grundsätzlich die Unterbringung in Heimen, wo es wegen der üblichen Mehrfachbelegung der Zimmer nicht möglich sei, irgendeine Form von Privatleben zu führen. Ein Einzelzimmer wie Chukwudi haben nur wenige.

Die schicke Unterkunft hat bereits einen Namen bekommen. Die Flüchtlinge nennen sie »die weiß getünchte Grabstätte«.