Lebensgefühl RAF

Macht und Ohnmacht im bewaffneten Kampf. von gottfried oy

Deutet sich ein Paradigmenwechsel in der Erforschung der 68er an? Die RAF sei nicht, wie vielfach angenommen, ein Zerfallsprodukt der Studentenbewegung. Wer den bewaffneten Kampf verstehen wolle, müsse vielmehr direkt in das »Zentrum der antiautoritären Bewegung« blicken, meint Wolfgang Kraushaar, Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er wertet den im Besitz des Instituts befindlichen Nachlass von Rudi Dutschke aus und hat sich zum Ziel gesetzt, dessen Image als Ökopazifist, das ihm die Gründer der Grünen postum verliehen, gehörig ins Wanken zu bringen.

Statt sich, wie in der ursprünglichen Konzeption vorgesehen, an der Berliner RAF-Ausstellung zu beteiligen, bringen nun Kraushaar, Jan Philipp Reemtsma und Karin Wieland ihre Thesen zu RAF und ’68 gleichzeitig zur neu konzipierten Schau im institutseigenen Verlag in Buchform heraus. Fasst man die Thesen kurz zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Dutschke ist der eigentliche Wegbereiter der Stadtguerilla, Andreas Baader, der »Dandy des Bösen«, dient als Blaupause des »Lebensgefühls RAF«, und die Linken sind ganz allgemein »verständnisvolle Dritte mit ihren Sehnsüchten nach Authentizität, unentfremdetem Leben, Undifferenziertheit und Dummheit«. Eine Art kumpelhaftes Einverständnis vieler Linker mit dem Selbstbild der RAF verhindere, so lautet die These, bis heute eine wahrhafte Aufarbeitung der Geschichte.

Solch knallige Statements werden für Aufsehen sorgen, behauptet zumindest Thomas Medicus in der Frankfurter Rundschau. Fragt sich nur, bei wem, hat sich doch der linksliberale Mainstream spätestens mit Oskar Negt 1972 vom Sympathisantentum losgesagt, die Spontis zogen 1976 nach, die RAF selbst löste sich 1998 auf. Der Tabubruchgestus gegenüber einer Linken, deren Lebenslüge darin bestünde, aus moralischen Gründen die RAF bis heute irgendwie gut zu finden, verwundert also ein wenig. Er steht allerdings als rhetorische Figur in der Tradition einer allgemeineren Gewaltdebatte, die schon in den Auseinandersetzungen um die Vergangenheit des rotgrünen Außenministers anklang. Dabei geht es einzig und allein darum, wer von den 68ern wann in welchen Notizen und Papieren Gewalt gepredigt und auf der Straße auch praktiziert habe – und zwar schon lange bevor es staatliche Gegenreaktionen gab.

Bei Dutschke wird Kraushaar 1966 fündig, der Beweis sei damit erbracht, dass das Stadtguerillakonzept keineswegs eine Reaktion auf den späteren Verlauf der Studentenbewegung gewesen sei, sondern schon lange vorher fertig in der Schublade gelegen habe. Staatliche Gewaltexzesse gegen die Apo, etwa am 2. Juni 1967 oder während der Osterunruhen 1968, waren demnach notwendige Reaktionen auf ein vorhandenes Gewaltpotenzial, könnte man ergänzen. Oder, wie es Reemtsma in Bezug auf die Siebziger mit der ihm eigenen Ironie formuliert: »Wenn der Polizeiapparat die RAF in Ruhe gelassen hätte, könnte sie heute noch stadtteilbezogen Bomben legen und Geiseln nehmen.«

Während sich Kraushaar zumindest noch die Mühe einer intellektuellen Annäherung an Dutschke macht, liest sich Karin Wielands Beitrag über Andreas Baader wie das Gutachten einer Sozialarbeiterin, Prognose: negativ. Ihr bildungsbürgerlich-despektierlicher Blick auf den Proleten Baader und sein »unsinniges epigonales Gestammel« ist nicht zu verkennen. Selbst die 974 Bücher, die man neben Kajalstift und Schminke in Baaders Zelle fand, konnten aus ihm, dem Stammheimer »Kommandanten des Selbstmordkommandos«, wie Reemtsma ihn nennt, keinen Intellektuellen machen.

Wenn auch Reemtsma geschickt zu provozieren weiß, findet sich bei ihm zugleich eine der wenigen plausiblen Thesen des Buches. Der in der Linken der sechziger Jahre weit verbreitete Hang zur Idealisierung eines nicht entfremdeten Lebens, eines widerspruchsfreien, authentischen Daseins, habe einen rigiden Moralismus befördert, der nicht selten seinen »Gewaltlockungen« erlag. Dass Moral und der Wunsch nach ihrer Durchsetzung mittels Gewalt schon immer gut zusammenpassten, ist allerdings keine sonderlich neue Erkenntnis.

Darüber hinaus ist Reemtsma keine Annäherung an das Thema kritisch genug, selbst harmlose Linksliberale wie Horst-Eberhard Richter werden des Sympathisantentums angeklagt: In seiner Auseinandersetzung mit Birgit Hogefeld übernehme er deren Begriffe und Formulierungen und bagatellisiere somit die Morde der RAF. Zudem sei der Zugang der meisten RAF-Interpretationen völlig falsch. Dem bewaffneten Kampf lägen nunmal keine Ohnmachtsgefühle zugrunde, die »Lebensform RAF« zeichne sich gerade durch ihre Machterfahrungen – eigener Krisenstab, eigenes Gefängnis, eigene Haftbedingungen – aus. Und politisch? Da bleibt für Reemtsma nichts übrig, außer einer RAF-Programmatik, die er in wenigen Worten zusammenfasst: »Mensch, Kampf, Hass, RAF, Schweine, Bullen, Scheiße, Votze, Tod«. Noch Fragen?

Wolfgang Kraushaar, Jan Philipp Reemtsma, Karin Wieland: Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF. Hamburger Edition 2005, 142 Seiten, 12 Euro