X, Superstar

Vor 40 Jahren wurde Malcolm X erschossen. von albert scharenberg

Der Blick fällt zuerst auf das Gewehr. Der am Fenster stehende Mann hält es, den Kolben auf die Hüfte gestützt, mit dem Lauf nach oben gerichtet in der rechten Hand. Das große Magazin zeigt, dass es sich um eine automatische Waffe handelt. Mit der linken Hand schiebt der Mann die Gardine ein wenig zur Seite und lugt vorsichtig, den Kopf leicht nach vorne gebeugt, aus dem Fenster, als ob er einen Angriff erwartet.

Dieses wohl berühmteste Foto von Malcolm X, der afroamerikanischen »Stimme der Unterdrückten«, entstand unmittelbar vor seiner Ermordung. Zum Zeitpunkt der Aufnahme wusste er bereits, dass man ihm nach dem Leben trachtete. Das Haus seiner Familie war nur eine Woche vor seinem Tod nachts mit Brandbomben angegriffen worden; nur durch Zufall wurde niemand verletzt. Diese Bedrohung war dann auch der Grund dafür, dass sich Malcolm X zur Abschreckung in militanter Pose ablichten ließ.

Genützt hat es nichts mehr. Am 21. Februar vor 40 Jahren wurde er im Audubon Ballroom in Harlem erschossen. Aber das Foto wie auch die rätselhaften Umstände seiner Ermordung trugen dazu bei, den Mythos Malcolm X zu erschaffen, der bis heute fortlebt. Immer noch ist die Frage ungeklärt, ob neben der »Nation of Islam« nicht auch die Bundespolizei FBI in seinen Tod verstrickt war – Indizien hierfür gibt es jedenfalls einige.

Malcolm X genießt auch heute noch große Popularität in der Black Community. Noch immer faszinieren seine kompromisslose Haltung und seine schillernde Biografie, die Anknüpfungspunkte für ganz unterschiedliche Gruppen und Strömungen bietet. So wird Malcolm X von Rappern gesampelt und im »neuen schwarzen Film« zitiert, an Schulen gelesen und in Black Studies Departments studiert, von schwarzen Nationalisten verehrt und von schwarzen Feministinnen verteidigt.

Growing Up Black

Malcolm X wurde 1925 als Malcolm Little geboren. Seine Kindheit in Lansing bei Detroit war vom frühen Tod seines Vaters und dem Auseinanderbrechen der Familie geprägt. Nach seiner staatlichen Überweisung in eine weiße Familie war er bemüht, sich in die weiße Gesellschaft einzufügen. Zunächst nicht ohne Erfolg: So wurde er, obwohl einziger Schwarzer, in der Schule zum Klassensprecher gewählt.

Aber seine Integration blieb begrenzt. Zum Schlüsselerlebnis wurde schließlich ein Gespräch des scheinbar integrierten Heranwachsenden mit seinem Englischlehrer, der ihm seinen Berufswunsch ausreden will. »Du weißt, dass dich hier alle mögen. Aber du musst realistisch damit umgehen, ein Nigger zu sein. Ein Anwalt – das ist kein realistisches Ziel für einen Nigger. Warum wirst du nicht Zimmermann?« Dieses offene Wort machte Malcolm Little schlagartig den Rassismus der Gesellschaft bewusst – und damit seine eigene Benachteiligung. Die Erkenntnis, dass er sein Leben lang auf einen untergeordneten gesellschaftlichen Status festgelegt sein würde, führte dazu, dass er sich frustriert von der weißen Dominanzkultur abwandte.

Der Hustler »Detroit Red«

Wenig später zog er zu seiner Halbschwester Ella Collins nach Boston. Die Verachtung, die er bald auch den schwarzen Mittelschichten entgegenbrachte, wuchs während seiner Jugend in Boston und Harlem. Er wurde zu »Detroit Red«, dem nur die beiden Möglichkeiten der Lebensführung der schwarzen Unterklassen in den Ghettos des Nordens zur Verfügung standen. Als »Hipster« lernte er die städtische Straßenkultur kennen und sammelte Erfahrungen in miserabel bezahlten Gelegenheitsjobs – heute würde man euphemistisch sagen: im »konsumorientierten Dienstleistungsbereich«. Weil diese dead-end jobs letztlich perspektivlos waren, wandte er sich der kriminellen Unterwelt zu, wurde zum »Hustler« – und damit zu einem Archetyp der aus dem Gangsta-Rap so bekannten Figur. Er nahm Drogen, trug eine Waffe und lebte von allem, was sich zu Geld machen ließ, insbesondere vom organisierten Raub. Diese Karriere endete schließlich im Gefängnis – auch dies eine »typisch schwarze« Erfahrung: Noch heute landen mehr junge schwarze Männer im Knast als auf dem College.

Nationalistischer Prediger

Im Gefängnis kam Detroit Red in Kontakt mit einer kleinen religiösen Sekte, die sich »Nation of Islam« (NOI) nannte. Zu dieser Zeit, Mitte der vierziger Jahre, hatte die von Elijah Muhammad, dem selbst ernannten »Botschafter Allahs«, geführte NOI allenfalls einige hundert Mitglieder. Ihre Lehre, eine Mischung aus konservativem schwarzen Nationalismus und islamischem Fundamentalismus, basierte auf der These, dass alle Weißen genetisch »Teufel« seien, die die Schwarzen mittels brutaler Gewalt und »Tricknologie« unterdrückten.

Diese scheinbare Entlarvung der weißen Dominanzkultur machte großen Eindruck auf den inhaftierten Detroit Red. Überhaupt entsprach die Ablehnung der weißen Gesellschaft der zunehmenden Frustration der Unterklassen in den Ghettos, denen der historische »Satanismus« der Weißen nicht erst bewiesen werden musste – und um deren Existenz sich ansonsten kaum jemand scherte. Die NOI jedoch machte dieses Milieu zu ihren wichtigsten Anhängern. Obwohl die heute von Louis Farrakhan geführte Gruppe – gerade mit Blick auf antisemitische Tendenzen aus jüngerer Zeit – vielfach kritisiert wird, sind es noch immer die Programme für die Unterklassen, die der NOI im schwarzen Amerika Respekt einbringen.

Malcolm Little, der nun den Nachnamen des früheren Sklavenhalters durch ein »X« für unbekannt ersetzte, war die Inkarnation dieser Orientierung auf das »Lumpenproletariat«. Er, der ehemalige Hustler, der das Leben der Drogenabhängigen, Prostituierten und Gangster persönlich kannte, weil er jahrelang als einer der ihren gelebt hatte, wandelte sich durch den Beitritt zur NOI vom Saulus zum Paulus.

Während die Bürgerrechtsbewegung und Dr. Martin Luther King gegen die Apartheid im Süden kämpften, wurde Malcolm X zum intellektuellen Fürsprecher der ghettoisierten Unterklassen in den Großstädten des Nordens.

Postkolonialistische Erkenntnisse

Malcolm X erwies sich nach seiner Konversion und Freilassung als brillanter Redner und Organisator. In seinen Reden prangert er immer wieder die gewaltsame Verschleppung der AfrikanerInnen in die amerikanische Diaspora, ihre dortige Versklavung und jahrhundertelange Ausbeutung an. Dabei kritisiert er die Verlogenheit der Weißen: Sie predigten Gewaltlosigkeit und lynchten Schwarze. Sie gäben Schwarzen die miesesten Jobs und erklärten dann, sie taugten zu nichts anderem. Sie verhinderten die Bildung der AfroamerikanerInnen und mokierten sich über ihre mangelnden Kenntnisse.

Heute kann man sich nur noch schwerlich ausmalen, welche Wirkung solche Reden über die »weißen Teufel« in der amerikanischen Gesellschaft der Nachkriegsjahrzehnte hatten. Es war ein unerhörter Tabubruch, und Malcolm X wurde dafür vom weißen Amerika, das von den eigenen Verbrechen nichts wissen wollte, gehasst. Unter Schwarzen jedoch wurde er dafür respektiert, ja verehrt, dass er die »Wahrheit« über den Rassismus aussprach.

In dieser Hinsicht war er gleichzeitig Zeitgenosse der großen antikolonialistischen Freiheitsbewegungen in der »Dritten Welt« und deren Prophet in den Vereinigten Staaten: Er dekonstruierte die weiße amerikanische Selbstsicht, indem er die Schwarzen vom Rand ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte – und so die eindimensionale, ethnozentrische Perspektive der ehemaligen Sklavenhalter herausforderte. Malcolm X sprach aus der Sicht der Unterdrückten: »Wir sind nicht auf der Mayflower ins Land gekommen – wir kamen auf Sklavenschiffen.« Oder: »Wir sind nicht an den Felsen Neuenglands gelandet – die Felsen landeten auf uns.« Die ganze amerikanische Gründungsmythologie wird schließlich in einem einzigen Satz als Ideologie vorgeführt: »Ich sehe keinen amerikanischen Traum, ich sehe einen amerikanischen Albtraum.«

Persönliche Entwicklung

Malcolm X erfreut sich auch deshalb anhaltender Beliebtheit, weil er ein Beispiel gibt für die Möglichkeit einer biografischen Entwicklung. In dieser Hinsicht ist gerade sein letztes Lebensjahr von Bedeutung. Nach seinem Bruch mit der NOI kritisierte er seinen früheren Dogmatismus und Biologismus: »Ich war ein Papagei. Jetzt ist der Papagei aus dem Käfig entkommen.« Er gab sich »aufgeklärt« und trennte die Politik von der Religion. Er glaubte an die Emanzipationsbewegungen in der »Dritten Welt« und zeigte sich aufgeschlossen gegenüber den Ideen der politischen Linken. Nun rief er die Schwarzen nicht länger auf, sich für die islamische Religion zu begeistern, sondern forderte sie stattdessen auf zu lernen, »für sich selbst zu denken«. Seine von den kruden Auffassungen der NOI befreiten Reden machen ihn für Linke und Antirassisten zum Gesinnungsverwandten auf den ersten Blick – auch wenn dabei oft ausgeblendet wird, dass er weiterhin schwarz-nationalistische Auffassungen vertrat.

»By Any Means Necessary«

Ein wesentlicher Grund für das auch nach dem Hype der neunziger Jahre anhaltende Malcolm-X-Revival liegt aber darin, dass sein Beitrag zum schwarzen Selbstbewusstsein nicht von seiner Militanz getrennt werden kann. Malcolm X lässt sich eben gerade nicht »weichzeichnen«. Als die Bürgerrechtsbewegung 1964 gewaltfrei für das Wahlrecht der Schwarzen stritt, stellte er die Herrschenden vor die Wahl: Ballot or Bullet, gebt uns das Wahlrecht oder wir wehren uns mit Waffengewalt. Das war die antikolonialistische Sprache der Zeit, wie sie später von den Black Panthers aufgegriffen wurde. Gerade deshalb wurde die Fotografie, auf der Malcolm X die Waffe bereithält, so berühmt, obwohl er selbst nie eine Waffe benutzte: Weil in ihr ins Bild gefasst wird, wofür er wie kein Zweiter einstand. Es ging um das Recht auf Selbstverteidigung, wie er sagte: »mit allen notwendigen Mitteln«, »by any means necessary«.