Mit harten Bandagen

Die unsichtbare Hand des Marktes wird in Russland oft mit Bomben ergänzt. Unter Putin ist die Anzahl der Dollarmilliardäre extrem gewachsen. von fritz geiger

Der gepanzerte BMW hielt der mit Schrauben gefüllten Bombe ebenso stand wie dem Kugelhagel aus Maschinengewehren, der auf die Explosion folgte. Der ehemalige russische Vizepremier Anatoli Tschubais, heute Chef des Elektrizitätsmonopolisten UES, entkam dem Attentat am Donnerstag vergangener Woche unverletzt. Derartige Anschläge sind keine Seltenheit in dem Verteilungskampf, der in Russland nach dem Ende der Sowjetunion entbrannt ist. Die Mordrate war in den letzten Jahren zwanzig- bis dreißigmal so groß wie in Deutschland, zu den Opfern zählen auch mindestens zehn Duma-Abgeordnete und rund 200 Journalisten.

Auch ganz unabhängig von den Morden ist die Lebenserwartung der Russen rapide gesunken. Sie liegt für Männer heute bei 58,4 Jahren, für Frauen bei 72,1. 1990 betrug sie noch 63,6 bzw. 74,4 Jahre. Hunger ist verbreitet, wenn die Unternehmen monatelang die Löhne zurückhalten, und die medizinische Versorgung ist mitunter so schlecht, dass Wodka das einzige Betäubungsmittel ist, das bei Operationen zur Verfügung steht.

Doch nicht alle Russen müssen hungern, und manche können sich die Behandlung in einem ausländischen Krankenhaus leisten. 36 Dollarmilliardäre hat Russland, ihr addiertes Vermögen beträgt 110 Milliarden US-Dollar, was knapp einem Viertel des russischen Bruttoinlandsprodukts entspricht. Nur die USA und Deutschland verzeichnen mehr Milliardäre, und in keiner Stadt der Welt leben so viele wie in Moskau.

Freilich können die Milliarden, die einige Russen innerhalb weniger Jahre zusammengerafft haben, ihnen auch schnell wieder abhanden kommen. Jüngstes Beispiel ist Michail Chodorkowski. Vor einem Jahr führte er mit einem Vermögen von 15 Milliarden Dollar die Liste der Reichen noch an, heute sitzt er im Gefängnis und belegt mit 2,2 Milliarden Dollar nur noch Platz 14. Sein Werdegang zeigt auch, dass Russlands Milliardäre nicht so reich sind, obwohl das Land so arm ist, sondern dass die Bevölkerung hungert, weil sich manche unglaublich bereichert haben.

Chodorkowskis Aufstieg begann 1988. Damals wurden unter Michail Gorbatschow in der Sowjetunion privatkapitalistische Elemente eingeführt, Chodorkowski gründete in Moskau die Bank Menatep. Von 1990 bis 1993 bekleidete er unter Präsident Boris Jelzin das Amt des stellvertretenden Öl- und Energieministers, was er für sich zu nutzen verstand. 1992 errang Menatep den Auftrag, die Gelder für diverse Regierungsprogramme zu verwalten, später die für den Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten Tschetschenien. Von den für Tschetschenien bestimmten Geldern verschwanden 4,4 Milliarden Dollar.

1995 ersteigerte Menatep den bis dahin staatlichen Energiekonzern Yukos. Die Bank organisierte die Versteigerung und war der einzige Bieter. Der zweite Interessent, ein Konsortium aus Alfa Bank, Inkombank und Rossiisky Kredit, wurde nicht zugelassen, da angeblich Bankdokumente nicht ordentlich ausgefüllt worden seien. Für 159 Millionen Dollar, neun Millionen über dem Mindestgebot, errangen Chodorkowski und Konsorten also einen Energiekonzern, der über zwei Prozent der bekannten weltweiten Ölvorräte verfügt. Einige Monate nach der Auktion stieg der Wert von Yukos auf sechs Milliarden Dollar und im Lauf der Jahre über 20 Milliarden. Die Nummer zwei der russischen Milliardäre, Roman Abramowitsch, ergatterte zur gleichen Zeit für 196 Millionen Dollar das Unternehmen Sibneft, dessen Wert später elf Milliarden Dollar betrug.

Chodorkowskis Geschichte ähnelt der des so genannten Oligarchen Boris Beresowski, mit dem Unterschied, dass dieser klug genug war, sich rechtzeitig Wladimir Putins Häschern zu entziehen. Das kostete ihn allerdings den größten Teil seines Vermögens.

Beresowski, der einst als Mathematiker an der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften gearbeitet hatte, legte 1989 den Grundstein zu seinem Imperium. Gemeinsam mit ranghohen Managern des größten sowjetischen Autoherstellers Awtowas gründete er das Privatunternehmen Logowas. Als Rechtsform wählten sie das von Gorbatschow kurz zuvor eingeführte Joint Venture, das es ermöglichte, Gewinne ins Ausland zu transferieren.

Logowas sollte Software für den Lada-Hersteller Awtowas entwickeln, stellte die Arbeiten daran aber bald ein und konzentrierte sich auf den Verkauf der von Awtowas hergestellten Pkw, teilweise im Ausland. 1991 verkaufte Logowas 10 000 Autos, innerhalb von drei Jahren steigerte das Unternehmen den Absatz auf 45 000 Wagen jährlich und verdiente daran brutto 300 Millionen Dollar. Dieser satte Profit resultierte daraus, dass Logowas die Autos zum doppelten bis dreifachen Einkaufspreis weiterverkaufen konnte.

Logowas und andere Zwischenhändler konnten die Fahrzeuge zu recht günstigen Preisen beziehen. 3 500 Dollar zahlten sie durchschnittlich pro Stück, während die Produktionskosten ein Drittel höher, bei 4 700 Dollar lagen. Zu diesen günstigen Preisen ließen sich die Awtowas-Manager offensichtlich durch eine Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche überreden. Das Zuckerbrot waren Bestechungen. Die Peitsche förderten die 1997 eingeleiteten polizeilichen Ermittlungen zutage: Sie zählten 65 Auftragsmorde an Logowas-Direktoren sowie an Zwischenhändlern, die sich diese lukrative Einnahmequelle gegenseitig streitig machten.

Das Muster, nach dem sich Beresowski und andere Oligarchen bereichert haben, sieht folgendermaßen aus: Man muss nicht die formale juristische Kontrolle über einen Betrieb haben, um diesen auszuplündern – in einem Land, in dem keinerlei Rechtssicherheit herrscht und in dessen Staatsorganen die Korruption grassiert, ist formales Eigentum ohnehin nebensächlich. Stattdessen setzt man hinter – oder vor – das auszuplündernde Unternehmen eine eigene Firma, die die produzierten Waren zu Schleuderpreisen einkauft oder Vorleistungen zu überhöhten Kosten bereitstellt.

Auf diese Weise eignete sich Beresowski auch einen Teil der Deviseneinnahmen der größten russischen Fluggesellschaft Aeroflot sowie der Energieexporte an. 1992 betrugen die Erdölpreise im russischen Binnenmarkt ein Dreihundertstel des Weltmarktpreises, und Beresowskis Logowas wie auch Chodorkowskis Menatep gelang es, die staatlichen Stellen zu einer Exportlizenz zu bewegen. Logowas exportierte in der ersten Jahreshälfte 236 000 Tonnen Rohöl mit einer Gewinnspanne von etwa 99,7 Prozent, zudem die beeindruckende Menge von 840 000 Tonnen Aluminium zu ähnlichen Konditionen.

Mitte der neunziger Jahre gelang es Beresowski, Regierungsämter zu ergattern und in den engsten Kreis von Jelzins so genannter Familie vorzudringen, der anstelle des psychisch kranken und alkoholabhängigen Präsidenten die politische Macht in Russland ausübte. Durch diese Machenschaften wurde Beresowski bis 1997 zum reichsten Mann Russlands, mit einem Vermögen von drei Milliarden Dollar. Der Financial Times sagte er, dass er gemeinsam mit sechs anderen 50 Prozent der russischen Wirtschaft kontrolliere. Diese Behauptung war nur wenig übertrieben. Der Weltbank zufolge entfallen auf die 23 größten russischen Unternehmen 57 Prozent der Industrieproduktion.

Dann geriet Beresowski unter Druck, musste seine Beteiligungen eilig abstoßen und konnte nur einen Teil seines Vermögens ins Ausland retten. Heute hält er sich in London auf. Chodorkowski ist inhaftiert, auch gegen andere Oligarchen geht Putin vor. Manches deutet darauf hin, dass der neue Präsident den Wildwest-Kapitalismus Jelzinscher Prägung überwinden möchte. Auch Putins Erlass aus dem vorigen Jahr, demzufolge die Provinzgouverneure nicht mehr gewählt, sondern von der Zentralregierung ernannt werden, lässt sich dahingehend deuten. Als Verstoß gegen demokratische Prinzipien und weiteren Schritt auf Putins Weg zur Diktatur beurteilten dies viele westliche Medien. Doch in manchen Regionen wird erst die Ernennung des Gouverneurs durch Moskau ein Mindestmaß an rechtsstaatlichen Verhältnissen ermöglichen.

Das zeigt das Beispiel Primoriye. In der ostrussischen Region gründeten 213 Direktoren der größten Betriebe 1992 die Primorsker Gesellschaft der Güterproduzenten (Pakt). Ähnlich wie Beresowski und Chodorkowski verkauften die Direktoren die Erzeugnisse ihrer Fabriken zu minimalen Preisen an Pakt, und Pakt verkaufte sie zu Marktpreisen weiter; die Differenz teilten die Direktoren unter sich auf. Sie versuchten auch, die Kontrolle über die Lizenzen und das Budget der Regionalverwaltung zu erlangen, womit sie den damaligen Gouverneur von Primoriye, Wladimir Kusnetsow, gegen sich aufbrachten.

Pakt gelang es im Mai 2003, Kusnetsow aus dem Amt zu drängen. Mit seinem Nachfolger Eugeni Nasdratenko trat Sergej Baulo auf den Plan, ein Gangster, der seit den späten achtziger Jahren als Erpresser in Primoriye tätig war und nun ein Büro gegenüber der Regionalverwaltung bezog. Baulo erlangte rasch die Kontrolle über die lokale Unterwelt. In den folgenden Monaten wurden in einem blutigen Kampf um Einflussbereiche neun Bosse getötet, Baulo stieg zum inoffiziellen Vizegouverneur auf. Die Verwaltung installierte ein dichtes Netz aus Zwischenhandelsfirmen, über die sie ihre Einkäufe aller Güter, sei es Benzin, Kohle oder Zucker, zu überhöhten Preisen abwickelte. Der Profit floss in die Taschen der Verwaltungschefs.

In dieser Kleptokratie mussten die Verwaltungsangestellten wie Lehrer und Ärzte monatelang ohne Lohn auskommen, die medizinische Versorgung brach fast völlig zusammen, die Kinder erhielten in der Schule keine Mahlzeit mehr und die Bevölkerung der Region litt, wie viele meinten, größere Not als im Zweiten Weltkrieg. Putin gelang es erst im Februar 2001, Nasdratenko aus seinem Gouverneursamt zu drängen, als er ihm den Posten des Vorsitzenden des staatlichen Fischereikomitees zukommen ließ.

Dies ist nur ein Beispiel für die kriminell-korrupt-kleptokratischen Verhältnisse in manchen Regionen Russlands, und es zeigt, dass Putin allenfalls allmählich die Macht der Oligarchen zurückdrängen kann. Ob er, wie manche Beobachter meinen, der Handlanger einer Clique von Oligarchen ist, der die rivalisierenden Gruppen aus dem Weg räumt, oder ob er alle Oligarchen zurückdrängen will und aus taktischen Gründen zunächst selektiv vorgeht, weiß möglicherweise nur er selbst.

Sollte er bestrebt sein, alle Oligarchen zurückzudrängen, war er bisher nicht übermäßig erfolgreich: 1997 zählte Forbes vier russische Dollarmilliardäre, als Putin im Jahr 2000 Präsident wurde, war die Zahl auf null gesunken. Seither stieg sie auf 36. Und einige Beobachter meinen, die Korruption sei unter Putin noch größer als unter Jelzin.