Urbane Galerie

Streetart erobert die Straßen Berlins. Manchmal lohnt es sich, genauer hinzusehen. Ein Rundgang

Für den Surrealisten Antonin Artraud war der Künstler ein »Sündenbock, der die Aufgabe hat, sich die umherirrende Wut seiner Zeit wie ein Magnet anzuziehen«. Besonders prekär wird die Situation des Künstlers, wenn er sich nicht auf seine Leinwand und die Galerien dieser Welt zurückzieht, sondern die Straße zur Arbeitsfläche erklärt.

Dabei ist die Straße ein nahe liegendes Medium zur Verbreitung von Kunst. Einige bezahlen Tausende für Großleinwände am Alexanderplatz oder andere Blickfänge in der Stadt. Streetart-Künstler hingegen sehen die Wahrnehmbarkeit ihrer Kunst im öffentlichen Raum als ihr selbstverständliches Recht an.

Also Reclaim the Streets, nur ästhetischer. Die Bilder an den Fassaden, Dachvorsprüngen, auf Bahnhöfen und Schildern gehören niemandem, so banal es klingt, aber sie sind für alle da. Und jeder und jede kann hier selbst zum Künstler werden.

Ein paar Schöpfer prägen mit ihren Characters inzwischen das Hauptstadtbild auf unterschiedliche Art und Weise. Nomad zum Beispiel. Sein Character ist stylisch hochwertig und sehr schlicht. Er hat etwas von einem Strichmännchen oder Smily. Zwei Ausrufezeichen als Augen, und zwei ineinander geschwungene Kreise formen den Kopf. Ein Bild von Nomad mit einem armlosen Character ist mit der frohen Botschaft »No Hands – No Problem« versehen. So einfach ist das Character-Leben. Der Prenzlauer Berg ist sein Revier, gern hängt er an Stromkästen und in der Nähe vom Gemüsehändler ab. Meistens sind es so genannte Wallpapers – vorproduziert und an die Wand tapeziert. Oder mit Edding auf den jeweiligen Untergrund gezeichnet. In seiner Gesellschaft ist gelegentlich Miss Riel zu finden. Sie ist groß und schlank, hat riesig große Ohren und oft ein Haustier im Schlepptau. »Vegan« steht neben ihr an der Wand geschrieben. Vielleicht treffen sich die beiden deshalb so gern in der Nähe von Obst und Gemüse?

Die Leute von der CBS Crew scheinen die ganze Stadt zu ihrem Gebiet erklärt zu haben. Bevorzugt wird hier auf jeden Fall Adrenalin: Die oberen Hausfassaden, Dachvorsprünge, fast die gesamte S-Bahnstrecke des inneren Ringes oder Baugerüste als Leinwand zeugen von erhöhter Risikobereitschaft. Am Hackeschen Markt wurde eine ganze Hausfassade mit ihren Fäusten und dem Schriftzug »CBS is DEAD« verziert. Einige Meter weiter die Parole: »Für noch mehr Bullen!« Ihr Markenzeichen, die geballte Faust, verschwand irgendwann aus dem Repertoire der CBS-Bilder und wurde anscheinend durch einen Sternenschweif ersetzt. Selbstironie: Kurz zuvor waren vermehrt Fäuste aufgetaucht, die durchgestrichen und mit »NO LOGO«-Schriftzug versehen worden waren, sowie von CBS selbst produzierte Sticker mit Blindenbinde und der Aufschrift: »CBS: Ich kann es nicht mehr sehen.«

Ein alter Hase im Geschäft ist 6, Sex, der @rtist, der 1cm Mann. Der Mann hat viele Namen und ist wohl der bekannteste »Typo« in Berlin. Man findet ihn überall. Seine Kunst unterscheidet sich am deutlichsten vom Rest der Streetart-Szene. Auf Plastikdeckeln von Farbeimern malt er seine Smilies und platziert sie an den merkwürdigsten Stellen. Fahrräder und entsorgte Weihnachtsbäume werden zu Installationen in der Fußgängerzone, ausgemusterte Gehwegplatten, alte Matratzen sind seine Arbeitsfläche. Infantil wirkt das und verspielt. Jede freie Fläche wird genutzt, mit Internet-Adressen beschrieben. Verweise hier, Anweisungen dort, Smilies, Sechsen … – alles verworren und faszinierend ohne Ende.

Am Hackeschen Markt, in der Brunnenstraße und an vielen anderen Hauswänden, Türen und Straßenschildern begegnet man den »Lads«, den Characters der Crew The London Police: Strichmännchen mit großen Füßen und Nummern auf ihren Körpern. Sie sehen immer freundlich aus und grinsen gern aus Türrahmen hervor. The London Police ist eines der bekanntesten Streetart-Teams. Die beiden Mittzwanziger kommen aus Amsterdam. In wenigen Jahren haben sie es geschafft, in Europa und Japan bekannt zu werden. Meistens malen sie ihre Characters mit dem Stift, in ganz seltenen Fällen, bei schwierigen Plätzen, plakatieren sie vorgefertigte Bilder. Ihre Motivation ist, sagen The London Police, »Liebe in die Straßen« und die Menschen zum Lächeln zu bringen.

Die Menschen auf der Straße zu erreichen, ist das, was wohl alle Aktivisten gemeinsam haben. Parallelen zum Werbedesign lassen sich nicht leugnen, muten doch viele Figuren und Logos der Aktivisten an wie ein in Auftrag gegebener Entwurf zur Dekoration der Straßen. Eine besondere Rolle spielt für die Aktivisten auch das Miteinander. Das Kunstwerk lebt vom Mitmachen, von der Co-Existenz verschiedener Characters und Künstler und deren Messages.

Bei Streetart ist anscheinend alles erlaubt, jedes Material wird zur Verarbeitung genutzt. Es bedarf keiner besonderen technischen Fähigkeiten, nur der Lust am Malen, Schneiden, Scannen und Ausdrucken. Aktionen mit großen Malerrollen sind ebenso gang und gäbe wie die Arbeit mit Stiften und Farbdosen. Jeder und jede kann hier partizipieren, Kunststudenten, coole Graffiti-Freaks, gelangweilte Linke, perspektivlose Endzwanziger, verhinderte Layouter, rebellische Teenager.

Die Künstler gelangten anscheinend mit der Zeit zu der Erkenntnis, dass ein Zusammenspiel funktionieren kann. Fakt ist jedenfalls, dass es eine Entwicklung vom akzeptierten Nebeneinander zum Miteinander gibt. Einige Orte in der Stadt haben sich regelrecht zu Anlaufstellen für die Aktivisten entwickelt. In der Invalidenstraße zum Beispiel ist das Meer zu Hause. Dort Treffen sich 6, TGS, Agähn und die Mermaids auf einer brach liegenden Baustelle. Jemand hat die »Titanic« aufs Wasser geschickt, die Meerjungfrau schaut ihre Beobachter lasziv an, und die Plastikdeckel-Smilies von 6 grinsen dazu. Diese Installation zeigt das perfekte Zusammenspiel der Szene, ist ein Hingucker, ein Highlight im Alltag dieses tristen Teils von Berlin-Mitte. Gleiches gilt für das »Platzhaus am Helmholtzplatz«. Vier Wände und unzählige Characters sowie einige Sticker. Wieder trifft man auf alte Bekannte: Nomad, Miss Riel, TGS und CBS. »Ich geh kaputt«, steht dort in schwarzen Lettern. Angesichts der Fülle an Styles, Characters und Logos auch kein Wunder.

Für diejenigen Aktivisten und Aktivistinnen, denen die Straße als Ort des Feedback und der Reputation nicht mehr genügt, existiert längst eine riesige Auswahl an Internetseiten und Webblogs zum Thema. MTV hat Streetart für die eigenen Werbetrailer entdeckt, und im Café Moskau in Berlin fand im vergangenen Jahr im Oktober sogar eine Konferenz mit dem Titel »Pictoplasma« statt, bei der sich Streetartists aus aller Welt trafen.

Die Characters haben den Fame, den ihre Schöpfer vermutlich nie haben werden. Sie sind stylish, up to date, sexy und einfach überall zu finden. Wo Graffiti noch codieren und verwirren wollten und Sprayer mit ihren »Tags« eine eigene Art der Kommunikation erfanden, die meist nur unter Gleichgesinnten funktionierte, lässt Streetart eine Kommunikation mit den Menschen auf der Straße zu. Streetart ist lesbar, Logo und Character sind leicht zugänglich. Der Fokus liegt hier nicht so sehr auf der Competition, also dem Wettbewerb, wie bei der Graffiti-Bewegung, aus der nicht wenige Streetart-Künstler kommen.

Was Streetart und Graffiti außerdem gemeinsam haben, ist die Nähe der Kunst zur Politik. Es geht dabei nicht nur um eine Aneignung des öffentlichen Raums, einige Künstler wollen ihn auch mit ihren politischen Statements besetzen, und die sind nicht immer ganz so stylish und up to date, wie die künstlerischen Mittel. Auch bei Streetart tauchten nach dem Beginn des Irak-Kriegs zunehmend antiamerikanische Ressentiments auf. Porträts des US-Präsidenten sind ein beliebtes Motiv für Aufkleber und Sprühschablonen geworden. »Triple Terror« steht neben einem Bild Bushs, umringt von Bin Laden und Tony Blair. »Fight US-Agression« oder auch »Defend your Nation against US-Agression«, schreibt die Skywalker Crew an viele Berliner Dächer, unbekannte Aktivisten bringen via Schablonen kämpfende Soldaten an die Wand. Aber auch Sticker wie »Fight Homophobia – Warzone Dancehall« tauchen auf.

Im Zeitalter der Webblogs und Internetforen kann die Lust am politischen Statement auch legal und bequem von Zuhause aus befriedigt werden, aber manche brauchen eben den Kick.

Streetart im Internet: streetart.antville.org, Streetart.info, Londonpolice.com, pictoplasma.com