Die Klasse gehört uns

Französische Schüler sind dazu übergegangen, aus Protest gegen die Bildungsreform ihre Schulen zu besetzen. Doch Überfälle von Jugendbanden auf eine Demonstration in Paris halten sie von Straßenaktionen ab. von bernhard schmid, paris

Wir können auch anders«, beschlossen französische Oberstufenschüler in einigen Teilen des Landes in der vorigen Woche. Am Donnerstag wurde der umstrittene Entwurf »zur Zukunft des Bildungswesens« von Bildungsminister François Fillon von beiden Parlamentskammern definitiv verabschiedet. Zwar waren die Demonstrationen gegen die so genannte Reform wesentlich geringer besucht als während der acht Wochen zuvor, zugleich aber nahm die Zahl besetzter Oberschulen und lycées sprunghaft zu.

Seit Mitte März gibt es bereits landesweit Besetzungen. In Paris kamen jugendliche Aktivisten am Donnerstag voriger Woche zu ungewohnt früher Zeit in ihre Schule und brachten Ketten und Schlösser mit. Notdürftige Barrikaden an den Eingängen der Schulgebäude waren bereits seit einer Woche in mehreren Trabantenstädten aufgetürmt. Insgesamt waren zu dem Zeitpunkt 80 Schulen vollständig oder teilweise unter der Kontrolle von Besetzerinnen und Besetzern, die auch während des Osterwochenendes in den Gebäuden oder in davor aufgestellten Zelten übernachteten. Einige wollen bis zum kommenden Samstag durchhalten. Dann soll eine Großdemonstration von Schülern, Studierenden, Lehrern und Wissenschaftlern gegen die Unterversorgung des öffentlichen Bildungswesens stattfinden.

Fillons Vorlage soll vor allem dazu dienen, die so genannte Lissabon-Strategie umzusetzen, die auf einem EU-Gipfel in der portugiesischen Hauptstadt im Jahr 2000 beschlossen wurde. Dazu gehört die Definition so genannter Schlüsselkompetenzen, die auf dem Arbeitsmarkt verwertbar sein sollen und von den Unternehmen abgefragt werden. Alles, was darüber hinausgeht, steht zur Disposition. Etwa die bisher in den Abiturklassen angebotenen Projektkurse, in denen Schüler mit Hilfe der Pädagogen ein Referat erarbeiten oder auch einen Film drehen konnten.

Hingegen wurde die so genannte Abiturreform nach den ersten Protesten Ende Januar vorläufig zurückgezogen. Die dazu eingesetzte Arbeitsgruppe im Ministerium arbeitet aber weiter. Bisher wurden die Abiturdiplome von einer zentralen Prüfungskommission verliehen. Nunmehr sollen sie durch Bewertungen der einzelnen Schulen ersetzt werden, unter Berücksichtigung der ganzjährigen Mitarbeit. Daher befürchten sehr viele Schüler aus den Banlieues oder anderen Landesteilen, künftig gegenüber denen aus dem Pariser oder Lyoner Zentrum noch stärker benachteiligt zu werden. Ihr Diplom werde faktisch nichts wert sein.

Mit Ausnahme der Maßnahmen, die das Abitur betreffen, konnte die Annahme des Regierungsentwurfs nicht verhindert werden. Dazu trug die Kompromisslosigkeit der Regierung bei, aber auch die Gewalt, die sich anlässlich der Schülerdemonstrationen vor allem in den ersten beiden Märzwochen manifestierte. Der Höhepunkt war am 8. März erreicht. An diesem Tag demonstrierten im ganzen Land über 150 000 Oberschüler. Doch der regionale Protestzug in Paris musste nach der Hälfte der geplanten Route abgebrochen werden. Die Teilnehmer wurden von Jugendbanden aus den Banlieues attackiert, die Schüler zu Boden warfen und ihnen vor allem ihre Mobiltelefone und manchmal auch die Markenklamotten abnahmen. Die Zahl der Angreifer wird auf 800 bis 1 000 Personen geschätzt. Da an diesem Tag ein strukturierter Ordnerdienst fehlte, konnten die Schläger von den Rändern her in die Demonstration eindringen, obwohl daran etwa 10 000 Menschen teilnahmen.

»So etwas habe ich in 20 Jahren noch nie erlebt«, meint der Bildungsgewerkschafter Jean-Paul R., der sich beruflich um so genannte schwer erziehbare Jugendliche kümmert. »In der Vergangenheit gab es das Phänomen der Krawallmacher. Aber sie griffen in aller Regel Polizisten an oder plünderten auch mal Luxusgeschäfte aus, wie bei den Schülerdemos von 1994 oder 1998. Doch noch nie hat man erlebt, wie die Gewalt sich direkt gegen eine ganze Demonstration richtete.«

Ein Teil der Medien hat, wie manche Autoren der Pariser Zeitung Le Monde, den »antiweißen Rassismus« als angebliche Hauptursache für den Gewaltausbruch entdeckt. Es stimmt, dass 80 Prozent der Jugendlichen, die die Pariser Demonstration angriffen, offensichtlich afrikanischer Herkunft waren. Daraus aber Schlussfolgerungen im Sinne einer »ethnischen« Einteilung zu ziehen, wäre abstrus und verkehrt. Schon deswegen, weil eine größere Zahl schwarzer Jugendlicher auf der anderen Seite stand, nämlich bei den Demonstranten.

Jacqueline Petiteau, langjähriges Mitglied der Lehrergewerkschaft, glaubt dagegen, dass die Ursache für die Gewalt in den Biographien der Jugendlichen zu suchen ist. »In den vergangenen Jahren haben wir viele vollkommen verstörte oder psychisch geschädigte Jugendliche in unseren Klassen in den Banlieues ankommen sehen. Es handelt sich oftmals um Kinder und Jugendliche, die Zeugen von Grausamkeiten in afrikanischen Bürgerkriegen geworden sind oder in Extremfällen gar als Kindersoldaten daran teilgenommen haben und später von ihren Familien nach Frankreich geholt wurden. Solche total verstörten und oft aggressiven Jugendlichen spielen dann mitunter die tough auftretenden Bandenchefs, wenn sie eine Anzahl von anderen jungen Leuten um sich scharen können.« Wegen des erhöhten Schulversagens in manchen armen oder migrantischen Familien und der Zerrüttung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in einigen der anonymen Hochhaussiedlungen fänden sie mitunter ihr Publikum. Dieses hege vor allem einen aus Ausgrenzung resultierenden Hass auf die vermeintlich privilegierten »ewigen guten Schüler« aus dem Zentrum des Pariser Stadtgebiets.

»In vielen afrikanischen Herkunftsländern der Familien werden die Kinder anders erzogen als hierzulande. Erziehung ist eine kollektive Angelegenheit aller Erwachsenen, nicht nur der leiblichen Eltern. So sind es manche Eltern gewohnt, ihren Nachwuchs der Erziehung durch die Gesellschaft anheim zu geben«, erläutert dagegen die Pädagogin Françoise P. »In der Emigration in Frankreich funktionieren solche Sozialisierungsmechanismen nicht mehr. So übernehmen die Banden von Gleichaltrigen die Sozialisierung derer, die anderswo gescheitert sind.« Es sei ein anderer Desintegrationsprozess als in Familien arabischer oder maghrebinischer Herkunft, wo dieser Prozess eher aus der Krise der traditionellen patriarchalischen Familie resultiere.

Fakt ist, dass die gewalttätige Erfahrung auf der Demonstration Schüler aus Paris und dem Umland von weiteren kollektiven Aktionen abhält. Zwar reagierten manche wie Florian, der trotzig erklärt: »Ich habe mich grundlos verprügeln lassen, aber ich sage mir, dass ich jetzt erst recht zur nächsten Demo gehe. Sonst würde ich ja denen, die dafür verantwortlich sind, das Terrain überlassen.« Doch sehr viele andere reagierten, indem sie bei den Vollversammlungen in den Schulen für »andere Aktionsformen innerhalb unserer Schulgebäude« plädierten. Anfänglich wurde deswegen befürchtet, dass die Protestbewegung alsbald im Sand verlaufen werde. Mit den Besetzungen scheint sie nun doch noch einmal neuen Schwung bekommen zu haben.