Die Fakten deuten

Eine materialistische Geschichtsschreibung braucht einen Begriff von Staat, Nation, Bevölkerung. Sonst wird sie krude oder zu einer beliebig interpretierbaren Faktensammlung. von felix klopotek

Entwarnung! »Hitlers Volksstaat« ist nicht, wie erste Kritiken und Reaktionen aus der Linken vermuten lassen, ein perfides Machwerk, das im Gewande des Materialismus und der schonungslosen Aufarbeitung der Vergangenheit neoliberale Topoi vertritt. Es propagiert keinen Nationalismus zweiter Ordnung, es ist keine Camouflage eines eigentlich konservativen Publizisten.

Das setzte nämlich voraus, dass Götz Aly ein konsistentes Werk veröffentlicht hätte. Wer sich aber ernsthaft auf die Gedankengänge des Buches einlässt, kann wenig anderes als eine krude Mischung entdecken. Schon die äußere Form müsste auf jeden wachen Leser verwirrend wirken: Wer das Buch eher als Essay lesen will, wird sich in endlosen Passagen mit unübersichtlichen und staubtrockenen finanzpolitischen Berechnungen verlieren. Wer umgekehrt das Buch als strenge Quellenforschung begreift, wird von essayistischen, locker-flockigen Passagen abgeschreckt, in denen Aly in schnellen Assoziationsketten Thesen herunterrasselt, die er, um sie möglichst pointiert formulieren zu können, nicht durch eine sorgfältige Diskussion mit anderen Forschungsergebnissen abwägt.

Alys Buch ist ein exzellentes Beispiel für eine Forschung, die sich durchaus emphatisch als materialistische versteht, die aber keinen Begriff von Staat, Nation, Bevölkerung und Kapital kennt und eben deshalb krude wird, oder besser: zu einer Faktenmasse, aus der sich alles Mögliche, Richtiges wie Falsches, ableiten lässt. »Systematische Analyse war nie seine Sache, sondern die punktuelle Zuspitzung des skandalösen Details«, hat Sebastian Gerhardt in der jungen Welt ganz richtig bemerkt.

Man kann mit dem Buch Hartz IV legitimieren. Man kann allgemein ein Loblied auf die Demokratie singen (Aly meint im Interview mit der taz: »Demokraten können umsteuern. Das geht langsam und kommt vielleicht manchmal zu spät, aber es ist möglich. Der nationalsozialistische Sozialstaat konnte nur expandieren.«) Man kann die Bevölkerung von ihren politisch-ökonomischen Konstitutionsbedingungen völlig entkoppeln, wie es Jens Jessen in der Zeit demonstriert hat: Alys »eigentlicher Gegner sind die Faschismustheorien, die behaupten, nicht das Volk, sondern das Kapital habe Hitlers Verbrechen begangen. (…) Die fortdauernde faschistische Bedrohung, von der sie (die Linke nach dem Zweiten Weltkrieg; F.K.) sprach, lag für sie in der Fortexistenz des Kapitalismus, nicht in der Fortexistenz einer Bevölkerung mit mörderischen Ressentiments.«

Ein paar Beispiele aus dem bunten Mischmasch seien genannt. Ein Unterkapitel heißt: »Der große Ruck«, es geht um die in Aufbruchsstimmung sich widerspiegelnde Integrationsleistung des NS. Die Anspielung auf Roman Herzogs berüchtigte Rede (»Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen«) ist offensichtlich. Will Aly die Konservativen attackieren? Etwas später schreibt er: »Angesichts von sechs Millionen Erwerbslosen versprach Hitler 1933 ›Arbeit, Arbeit, Arbeit‹«. »Arbeit, Arbeit, Arbeit« war das Motto der SPD zur Europawahl 1994. Will er sozialdemokratische Gerechtigkeitsvorstellungen aufspießen? Dann geht es gegen die Kommunisten: Die Lehre vom Herrenmenschen »umfasste neben dem allgemeinen Überlegenheitsgetue die von Wissenschaftlern genährte Furcht vor der Bedrohung des menschlichen Höherwertigen, das sich gegen den Ansturm des Minderwertigen notfalls mit Gewalt schützen müsse. Auch die sozialistische Weltanschauung enthielt ein solches Element, die Lehre vom historisch siegreichen Proletariat und von der Bourgeoisie als nichtswürdiger, sterbender Klasse.« Worauf läuft das alles hinaus? Dass der Nationalsozialismus das große Meer ist, in das alle politischen Strömungen der Moderne münden?

Daraus kann nur ein ganz dürrer Begriff des Nationalsozialismus folgen. Eher beiläufig – aber es ist der Kern seines Forschungsansatzes – schreibt Aly vom »kollektivistischen Zeitalter«, in dessen Ideologemen »die Tendenz zum Großgruppenhass steckt«. Vor dem schier gigantischen Hintergrund dieses Zeitalters schrumpfen Kapitalismus, Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus zu handlichen Größen.

Aly scheint bisweilen selbst nicht klar zu sein, was er will. Da gibt er vor, bescheiden und wissenschaftlich redlich, die »Vernichtungsmotive« zu differenzieren. Er nennt drei: die Politik der »ethnischen Entflechtung«, die Beschleunigung der »Endlösung« durch Lebensmittelraub sowie die »ständig geschürte Vorstellung, die Juden seien die Fünfte Kolonne des Feindes«. Und er ergänzt ein viertes Motiv: die Gewinnung materieller Hilfsmittel zur Überbrückung und Abmilderung wirtschaftlicher Engpässe durch »Entjudung«.

Aus diesem zusätzlichen Motiv, dieser Ergänzung wird fünf Seiten später schon der Kern der Sache: »Der Holocaust bleibt unverstanden, sofern er nicht als der konsequenteste Massenraubmord der modernen Geschichte analysiert wird.«

Aly hat eine fixe Idee – der deutsche Faschismus sei eine Gefälligkeitsdiktatur gewesen. Eine Idee, die ihn so fasziniert, dass er gar nicht erst zur Reflexion kommt. Er erwähnt, dass auf 17 Millionen DDR-Bürger 190 000 hauptberufliche Stasi-Spitzel kamen und ebenso viele nebenberufliche. Die Gestapo habe nur knapp 7 000 Mitarbeiter gehabt, der Sicherheitsdienst noch weniger. »Die allermeisten bedurften keiner Überwachung.«

Keine Fußnote verweist auf die kontroverse Gestapo-Forschung, die Alys saloppen Satz teils stützt, teils vehement bestreitet; kein Hinweis folgt auf seinen früheren Mitstreiter Karl-Heinz Roth. Dieser hat im Jahr 2000 die Quellenedition »Facetten des Terrors« vorgelegt, die die Arbeit des Geheimdienstes der Deutschen Arbeitsfront dokumentiert und trotz schwieriger Forschungslage zeigt, wie engmaschig in den Betrieben das Netz der Überwachung und des Terrors war, der sich gegen die Arbeiterbewegung richtete. Man kann der deutschen Arbeiterbewegung viel Schlechtes nachsagen, aber in den, wie Aly sagt, »kurzen zwölf Jahren« sind, trotz aller »Gefälligkeiten« und aller präventiven Einschüchterung, immer noch 150 000 Personen wegen sozialdemokratischer, gewerkschaftlicher oder kommunistischer Opposition verhaftet worden.

Aly geht davon aus, dass die Ergebnisse der imperialistischen Raubkriege und die Enteignung der Juden auf der Haben-Seite der deutschen Bevölkerung zu verbuchen waren und sich in Steuererleichterungen und sozialen Absicherungssystemen materialisierten. Das heißt, dass die kapitalistische Wirtschaft im NS-Staat konkreten Reichtum und eben nicht abstrakten unter der Bedingung der Verwertung produziert hätte.

Soziale Leistungen des Staates sind aber keine Wohltaten, kein Selbstzweck, sondern richten den Klassenstaat ein. Allgemein gesprochen: Weil der Lohnabhängige vom Lohn allein nicht leben kann, jedenfalls nicht so, dass die dauerhafte Reproduktion seiner Arbeitskraft und die geregelte Aufzucht des Nachwuchses garantiert sind, greift ihm der Sozialstaat unter die Arme. Der Sozialstaat beweist indirekt, dass der Lohn gar nicht den Zweck hat, das Überleben des Arbeiters oder Angestellten zu sichern, und bezweckt direkt, nur die negativen Folgen der Lohnarbeit für die auf sie Angewiesenen zu mildern.

Mit den Gefälligkeiten der NS-Diktatur kann es also nicht weit her gewesen sein. Tatsächlich kann man die Wohltaten, die Aly genüsslich ausbreitet, gegen den Strich lesen – als Indiz dafür, wie intensiv nicht zuletzt die einheimische Bevölkerung durch die imperialistische Mordmaschine vernutzt wurde. Auch dass deutsche Soldaten die von ihnen besetzten Länder aus unmittelbaren Konsumgründen regelrecht leer geplündert haben, spricht nicht für das »süße Wohlleben« (Aly), das im Reich geherrscht haben soll.

Der britische Wirtschaftshistoriker J. Adam Tooze hat in der taz Aly denn auch nachweisen können, dass er »unsymmetrisch« vorgegangen ist, zwar die vorsichtige Steuerpolitik der Nazis analysiert, aber das Nettonationalprodukt unbeachtet lässt, also keine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung vornimmt, aus der sich erschließen könnte, wie hoch die Belastung der Bevölkerung durch Kriegsfinanzierung, Kriegswirtschaft und Kriegsführung tatsächlich war. »Auch wenn Hitlers Regime die Volksgenossen lieber nicht besteuerte – die Menschen, die Rohstoffe, die Kapazitäten der Industrie hat es trotzdem mobilisiert.« (Aly hat auf Tooze geantwortet, ist aber einen substanziellen Gegenbeweis schuldig geblieben.)

»Hitlers Volksstaat« präsentiert trotz aller Inkonsistenz ein düsteres Bild von der Nation. Ein Kollektiv von habgierigen Proleten, das ständig mit sozialen Wohltaten beruhigt oder aufgemuntert werden will. Davon hebt sich das moderne nationale Selbstverständnis der Nation ab: In der heutigen Demokratie walten Einsicht in die Beschränkung und eine prinzipiell gesunde Mischung aus individuellem Egoismus und Kommunitarismus.

Aber Nationalsozialismus lässt sich nicht auf ein mieses Kalkül hinunterrechnen. Und der Massenmord war kein funktionaler Effekt. Die Einsicht in die Beschränkung, eine Mischung aus individuellem Egoismus (Durchsetzungswille) und Kommunitarismus (Einsatzbereitschaft), auch eine gewisse Vernunft, eine, wie Max Horkheimer schreibt, »instrumentelle Vernunft« – das gab es auch im NS. Neben allem auch nach innen gerichteten Terror existierte sehr viel Idealismus. Dass die meisten Deutschen mitgemacht haben, setzt voraus, dass sie ihren Einsatz für die Nation nicht nach Heller und Pfennig berechnet haben. Wer nicht von Nationalismus sprechen will, soll schweigen – von Nazi-Deutschland wie von der BRD.