Mobil gemacht

ALG II-Empfänger sollen »nicht angemessenen« Wohnraum verlassen. George M. aus Göttingen ist einer von ihnen. von silke kettelhake

Vorige Woche hat George M., 35 Jahre alt, fünf Jahrgänge des Satiremagazins Pardon bei Ebay versteigert, aus den sechziger und siebziger Jahren. Der Schwerbehinderte steht jeden Morgen um halb sieben auf, steigt auf sein Fahrrad und ist um acht Uhr in den Räumen der Göttinger Straßensozialarbeit. Treppensteigen ist schwierig für ihn, seine Beine sind verkrüppelt, mühsam zieht er sich am Geländer hoch. Kaum ist er oben angekommen, trudeln auch die Kollegen ein, mit denen er als Ein-Euro-Jobber den Onlineverkauf betreibt: Schallplatten, Bücher, Möbel und was sonst noch so bei Haushaltsauflösungen anfällt.

Die Einrichtung Straßensozialarbeit ist eigentlich eine Anlaufstelle für Wohnungslose, mit dem Ziel, ihnen elementare Dinge zu ermöglichen: Haare schneiden, duschen, zum Arzt gehen, sich anmelden, die Post abholen. Seit Anfang des Jahres kommen immer mehr Menschen, die zwar noch eine Wohnung haben, aber kein Geld. Und auch keinen Job. Und nichts in Aussicht. Uwe Friebe, der Leiter der Einrichtung, sagt: »Bei der Berechnung von Arbeitslosengeld II wird in Kreisen und Städten sehr unterschiedlich mit Wohnkosten, Mehrbedarf oder Freibeträgen verfahren. Und die Jobvermittlung bleibt auf der Strecke.«

Seit Jahresbeginn werden nur noch Mietkosten übernommen, die merklich unter dem Mietspiegel für bisher gängige Sozialwohnungen liegen. 245 Euro im Altbau, 325 Euro im Neubau für eine Person, so steht es in der Wohngeldtabelle unter Paragraf 8 Wohngeldgesetz. Im Januar flatterte George ein Schreiben ins Haus: Die Wohnung von etwa 60 Quadratmetern, die er erst im vergangenen Jahr mit seiner Freundin bezogen hat, sei nicht »angemessen«. Er möge sich doch etwas anderes suchen oder den fälligen Differenzbetrag von 15 Euro und 28 Cent aus eigener Tasche begleichen, vorausgesetzt, der Nachweis wird erbracht, dass er sich ohne Erfolg um niedrigere Unterhaltskosten bemüht hat.

15 Euro 28 und Cent sind viel, wenn man von 345 Euro im Monat Telefon, Kleidung, Essen und alles Übrige bezahlen muss. George kann kaum fassen, was in dem Schreiben steht, schließlich nickte der Sozialhilfeträger erst im vorigen Jahr seine Wohnung ab und übernahm die Miete. Und ein paar Monate später ist das plötzlich alles anders? »Ich wusste nicht weiter. Wir leben ja in einer Bedarfsgemeinschaft, da soll der eine für den anderen aufkommen«, erzählt George. Seine Freundin bezieht auch Arbeitslosengeld II und bekommt noch zehn Prozent weniger als er.

100 000 Menschen seien in ganz Deutschland betroffen, schätzt der Deutsche Mieterbund. Sein Pressesprecher Ulrich Ropertz erklärt: »Der Leistungserbringer legt die Wohnkosten fest; die Rechtspraxis ist so bunt, wie es Kommunen gibt.« Gesetzliche Vorgaben fehlten. Mit Hartz IV verzeichnete der Deutsche Mieterbund einen immens gestiegenen Beratungsbedarf. »Im Sommer etwa werden wir die Spitze des Eisbergs zu sehen bekommen«, vermutet Ropertz. »Selbst Wohnungseigentümer müssen verkaufen oder untervermieten, wenn sie die laufenden Kosten nicht mehr zahlen können.«

George hat die Differenz zunächst gezahlt, aus Angst, vom Vermieter gekündigt zu werden. Mittlerweile hat er Widerspruch eingelegt. »Man darf sich nicht aufgeben. Wenn ich mich zu Hause hinsetze, dann brauche ich bald gar nichts mehr zu machen. Man hat mal einen Tag, wo es einem schlecht geht und auch noch einen zweiten; am dritten Tag musst du wieder hochkommen.« Dahin, wo Wohnraum noch billig ist in Göttingen, in den Wohnkomplexen aus den sechziger und siebziger Jahren, will George auf keinen Fall ziehen: »Lieber nehme ich mir einen Strick.«

Die Rechtsanwältin Regine Filler vertritt George und etliche andere der etwa 1 200 Betroffenen in Göttingen, die in einer »nicht angemessenen« Wohnung leben: »Für 245 Euro alt oder 345 neu gibt es nichts, wenn man nicht im sozialen Aus landen will.« Die Stadt sei an einem Umzug der Betroffenen eigentlich gar nicht interessiert, glaubt Filler. Denn außer den Umzugskosten in Höhe von 1 500 Euro fielen meistens doppelte Mietzahlungen und eine neue Kaution an. »Mittlerweile haben viele zwei Mietverträge: einen fürs Sozialamt, einen für den Vermieter.« Und der kassiert dann stillschweigend monatlich die Differenz.

Auf der To-do-Liste vieler ALG II-Empfänger steht dennoch: die Wohnung kündigen bei dreimonatiger Kündigungsfrist, eine neue Wohnung finden – und sich einen Job besorgen. Dem Sozialamt sind die Belege über entsprechende Bemühungen vorzuweisen: Zeitungsinserate schalten, Wohnungsangebote unterbreiten oder Zimmer untervermieten.

Krank werden sei nicht möglich, sagt George: »Ich gehe nicht einfach mal so zum Arzt.« Praxisgebühr plus Medikamente, schon sind 30 Euro weg. Geld, das woanders fehlt. »Die letzten Tage des Monats müssen wir immer irgendwie überbrücken.« Monatlich verdient der gelernte Bürokaufmann mit dem Ebay-Projekt 130 Euro hinzu, bei fünf Stunden Arbeit täglich.

George kommt vom Jobcenter, das hat nichts gebracht. »Die wissen auch nicht genau, was Sache ist.« Er zieht die Schultern hoch. Wieder hat er zwei Stunden umsonst etwas versucht. Im neuen »Jobcenter« fehlten Computer und Informationsmaterial, die »Fallmanager« ließen auf sich warten, die Mitarbeiter seien überfordert und hätten keinerlei Erfahrungen mit der Jobvermittlung. »Überall heißt es Wiedereingliederung«, sagt George, »aber keiner kann dir helfen. Die Leute, die dir helfen können, die müssen dir nicht helfen. Das sind die Firmen.«

In der Kleiderkammer der Straßensozialarbeit stapelt sich die Frühjahrskollektion. Eine junge Mutter kleidet ihre dreijährige Tochter neu ein. Kinder? Das kann George sich auf gar keinen Fall vorstellen: »Die Zeiten sind dafür nicht gemacht. Was könnte ich dem Kind denn bieten? Ich habe keine Perspektive, welche hätte das Kind?« sagt er.

Die Statistik der Straßensozialarbeit aus dem vergangenen Jahr zeigt eine Verdopplung der Klientenzahlen und der Erstkontakte. 15 Jahre ist Uwe Friebe dabei, nachdenklich krault er seinen Rauschebart: »Statt Obdachlosen haben wir Menschen hier, die immer dachten: Das kann mir nie passieren. Unsere Klientel rekrutiert sich aus Hartz IV-Geschädigten, die unser Angebot nutzen. Sparen, wo es nur geht.« Immerhin können sie sich beraten lassen. »In anderen Kommunen gibt es solche Einrichtungen nicht. Wir hier in Göttingen sind privilegiert.«

Zum Ende des Projekts will George seine Arbeitskraft bei Ebay versteigern. Ob er dann mehr bekommt als einen Euro, da ist er sich nicht so sicher.