Gestoppt auf der Zielgeraden

Das Parlament hat dem Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Andrés Manuel López Obrador, die Immunität entzogen. Ihm droht eine Haftstrafe und deshalb das Ende seiner Erfolg versprechenden Präsidentschaftskandidatur. von albrecht wolfmeyer

Menschenleere Straßen, kein Hupen, kein Drängeln. In der Morgendämmerung wirkt das historische Zentrum der mexikanischen Hauptstadt beinahe gespenstisch. Noch ist die Luft klar und kühl, der Himmel tiefblau und wolkenlos. Die smoggeplagte 20-Millionen-Metropole atmet durch, bevor der neue Tag beginnt. Behelmte Soldaten mit schweren schwarzen Stiefeln marschieren auf den Zócalo, den Platz der Verfassung. Es ist sechs Uhr, der Zeitpunkt für ein tägliches Staatsritual: das Hissen der mexikanischen Flagge. Männer in Militärgrün umstellen den Platz; sechs Soldaten entpacken von Trompeten begleitet die Fahne. Nach wenigen Minuten weht das gigantische grünweißrote Banner mit den Nationalsymbolen, der Schlange und dem Adler, über der Stadt.

Auch gegenüber, an der Straße des 20. November, fand noch bis vor wenigen Tagen ein tägliches Morgenritual statt. Um 6 Uhr 30 hielt dort Andrés Manuel López Obrador, Mexiko-Citys Bürgermeister, seine Pressekonferenz ab. Tag für Tag machte der Frühaufsteher das so, seit er vor fünf Jahren zum Regierungschef der Kapitale gewählt wurde.

López Obrador, den die Medien kurz Amlo nennen, gilt als der beliebteste Politiker Mexikos. Umfragen zufolge ist er der aussichtsreichste Kandidat für die Präsidentschaftswahlen im Juli 2006. Dem Star der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) scheint der Einzug in den Präsidentenpalast Los Pinos sicher. Doch noch könnte López Obrador die Nachfolge des aus dem Amt scheidenden Vicente Fox verwehrt werden. Das Nationalparlament hat Amlo nach langem juristischen und politischen Gerangel am 7. April die politische Immunität aberkannt. López Obrador droht jetzt sogar eine Gefängnisstrafe. Am Wochenende übernahm Regierungssekretär Alejandro Encinas im Distrito Federal kommissarisch die Amtsgeschäfte des Bürgermeisters.

Die Kontroverse hat ihren Ursprung im Jahr 2000, als noch López Obradors Vorgängerin Rosario Robles die Stadt regierte. Sie ließ im eleganten Businessviertel Santa Fe eine Zufahrtsstraße zu einem britischen Krankenhaus bauen. Ein Verwaltungsgericht entschied, das Projekt zu stoppen, da die Straße durch ein kleines Privatgrundstück mit dem Namen »El Encino« führen sollte. Die Stadtregierung hielt an dem Vorhaben fest; auch López Obrador ignorierte später die gerichtliche Entscheidung. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, er habe sein Amt missbraucht und sich über einen richterlichen Beschluss hinweggesetzt.

Die Partei der Nationalen Aktion (Pan) von Fox und die Partei der Institutionalisierten Revolution (Pri) befürworten das Verfahren. Sie sagen, López Obrador dürfe nicht »über dem Gesetz« stehen. Amlo dagegen sieht sich als Opfer eines »Komplotts«, das zum Ziel habe, ihn politisch auszuschalten. Sollte er verurteilt werden, ist ihm rechtlich der Zugang zur Präsidentschaftskandidatur versperrt.

Die linke Tageszeitung La Jornada nannte das Verfahren den Versuch eines »doppelten Staatsstreichs«: Erst solle Amlo seinen Posten als Regierungschef der Hauptstadt verlieren, dann den prognostizierten Wahlsieg auf Bundesebene einbüßen. »Sie wollen ihn töten«, behauptet gar die Wochenzeitschrift Quehacer Politico. Doch Fox habe López Obrador durch seine Attacken nur gestärkt und ihn so ohne Absicht frühzeitig zu seinem Nachfolger gekrönt. »Mexiko hat schon einen neuen Präsidenten«, lautet daher die Einschätzung des Magazins.

Der Bürgermeister nutzt die Debatte und die ihm zufallende Opferrolle klug für seine Zwecke. Seit Monaten macht seine wachsende Fangemeinde in Mexiko mobil. Prominente wie der Schauspieler Gael Garcia setzen sich für den Politiker ein; selbst Subcomandante Marcos von den Zapatisten, wahrlich kein Sympathisant Amlos, verurteilte das Verfahren in einem Flugblatt. Der PRD der Hauptstadt trug den Fall ihres Spitzenmannes bis vor die Uno.

In den kreuz und quer durch den Distrito Federal Mexiko-Stadt kurvenden Minibussen und grünen »Käfer«-Taxis kleben Plakate mit dem Konterfei des Bürgermeisters. Zahllose Mexikaner erklärten sich solidarisch mit López Obrador und tragen Armbänder und Anstecker mit dem Protestspruch: »No al desafuero«, Nein zur Entziehung der Immunität. Auch Schleifchen in den Landesfarben sind in Mode und stehen längst als Synonym für das »Nein« der Anhänger Amlos.

Dutzende Menschen stehen jeden Morgen am Rathaus Schlange, um von ihrem Verfassungsrecht Gebrauch zu machen, eine Petition einzureichen. Den Wartenden ist anzusehen, dass sie zur großen armen Unterschicht Mexikos gehören: gebückt daherkommende alte Frauen, denen die Rente fehlt, um ihren Lebensabend zu bestreiten; junge Männer in schmutziger Arbeitermontur, die ihre Miete nicht bezahlen können. Jesús ist einer von ihnen. Zwar weiß der 32jährige kaum etwas über das Verfahren gegen López Obrador, aber seine Sympathie gilt dem Bürgermeister: »Ich werde ihn wählen, wenn er für die Präsidentschaft kandidiert.«

»Natürlich müssen wir ihn wählen«, sagt auch der Straßenhändler Raúl. Der 45jährige grinst und entblößt seinen letzten verbliebenen Zahn. Raúl lebt davon, jeden Morgen dünnen Kaffee, Rührkuchen und Pan Dulce an die Wartenden im Säulengang vor dem Rathaus zu verkaufen. »Hier sind immer Leute, und alle werden eingelassen«, sagt der Mann mit dem wilden Lockenkopf. »López Obrador hilft den Menschen, und er hat große Unterstützung.«

In López Obrador sehen die einfachen Arbeiter einen Politiker, der sich für sie einsetzt. Der PRD-Star gefällt sich als Mann des Volkes. Einer, der aus der außer Kontrolle geratenen Megametropole Mexiko die »Stadt der Hoffnung« gemacht hat. Dass ihn einer Umfrage der größten Zeitung Reforma zufolge 60 Prozent der Mexikaner als populistisch bezeichnen, braucht für López Obrador kein Problem zu sein. Denn ebenso viele finden eben diesen Populismus gut.

Bis zu Amlos Abgang am vergangenen Wochenende füllte sich der kleine Pressesaal im Regierungssitz am Zócalo jeden Tag. Die Atmosphäre in dem schmucklosen Raum war familiär: Küsschen, Händeschütteln, Plaudern. In der winzigen Küche stand frischer Kaffee bereit, im Fernsehen liefen die Frühnachrichten. Gegenüber dem Rednerpult des Bürgermeisters war das Porträt Francisco Zarcos platziert, eines kritischen und liberalen Journalisten, der den Posten des Außenministers unter Präsident Benito Juárez ausschlug, um weiter schreiben zu können. Juárez war bislang der einzige Staatschef indianischer Herkunft in Mexiko. Er ging als radikaler Reformer und charismatischer Führer in die Geschichte ein – ein veritables Vorbild für López Obrador, der sich als Klassenkämpfer sieht und gerne der »Lula Mexikos« werden möchte.

López Obrador liebt das Frage-und-Antwort-Spiel mit der Presse. Seit der Parlamentsentscheidung gegen ihn belagern Reporter sein Haus. Schon einen Tag nach der Abstimmung improvisierten seine Mitarbeiter eine Pressekonferenz in einem Park nahe seiner Wohnung. Der Bürgermeister pflegt auch im Umgang mit den Medien sein Image als bescheidener Politiker, der ohne Gehabe auskommt. Das allmorgendliche Blitzlichtgewitter nimmt er ganz gelassen hin. Augenscheinlich ein uneitler Profipolitiker, unauffällig vielleicht, aber voller Ambition. Am Revers trägt der Bürgermeister, wie auch seine Mitarbeiter, ein Schleifchen in den Landesfarben.

»Die Transparenz ist wichtiger Bestandteil der Demokratie«, sagte López Obrador im März bei einer seiner frühmorgendlichen Konferenzen. Seine Regierung sei die erste in Mexiko, die im Internet vollständig über ihre Arbeit Rechenschaft ablege. »Wir haben absolut nichts zu verbergen.« Ein programmatischer Ausspruch für Amlo.

López Obradors Stärke liegt im Dialog, nicht im Vortrag – der ist trocken und unrhythmisch. Im Disput entfaltet sich das Charisma des grauhaarigen Mannes mit dem wachen Blick. Immer wieder versucht es der Politiker aus dem Dorf Tepetitán im Südstaat Tabasco mit Späßen. Die hängenden Mundwinkel des 51jährigen lösen sich dann für einen Moment in einem Schmunzeln auf. So lassen sich schwierige Fragen entschärfen. Transparenz will López Obrador schaffen, wenn nötig bis zur Unkenntlichkeit: »Ich stehe um viertel vor fünf auf, bereite mir meinen Kaffee zu, rasiere und dusche mich, mache mich fertig, lese die Zeitungen, fahre ins Büro, dann bin ich bei Ihnen, und alles danach ist öffentliches Leben.«

Die Korruption und das organisierte Verbrechen, Mexikos schwerste Übel, will er anpacken und austilgen. Passendes Thema: Amlos Beziehung zu den Wirtschaftsbossen. López Obrador, 1989 Mitbegründer der Pri-Linksabspaltung PRD, versteht sich blendend mit den Chefs der größten Unternehmen. Etwa mit Carlos Slim, dem mexikanischen Telekommunikations-Milliardär. Amlo windet sich immer ein wenig, wenn die Presse seine Frühstückstreffen mit der Wirtschaftselite anspricht. Ob er ökonomische Zuwendungen versprochen habe? »Nein, ich nehme weder von Unternehmern noch von irgendwelchen Interessengruppen Geld an«, erwiderte López Obrador.

Wie Amlo mit der Presse umzugehen weiß, zeigt auch diese Situation: Bei einer Pressekonferenz wird er darauf angesprochen, dass die New York Times ihn als »messianisch und links« bezeichnet habe. Amlos Zeigefinger wackelt hin und her: »Ich bewege ihn nicht«, sagt er dann schelmisch, »der bewegt sich ganz von allein.« Warum die New York Times lesen, fragt López Obrador. Medienschelte empfange er schließlich genug im eigenen Land. Das Urteil der renommierten US-Zeitung ist für Amlo unwichtig.

Von einer geschickt angelegten Strategie zur Vorbereitung seiner Präsidentschaftskandidatur will der Bürgermeister nichts wissen. Aber er besucht längst verschiedene Städte in Mexiko und signiert sein Buch zum »Alternativprojekt der Nation«. Wie die Botschaft des Buches laute, fragte eine Journalistin einmal. Die Formel lasse sich in drei Worten zusammenfassen, so López Obrador: »Stabilität, Wachstum, Wohlstand«. Das klinge durchaus nach Kampagnensprache, warf die Reporterin ein. »Na gut, warum fragen Sie dann?« lautete Amlos Antwort, und er hatte die Lacher auf seiner Seite. Der Politiker gibt sich stets selbstgewiss: »Ich werde meine Versprechen halten.«

Bei vielen jungen Mexikanern ist der umtriebige Bürgermeister beliebt. So trägt die Kellnerin im Café »Bertico« im historischen Zentrum ihren Amlo-Anstecker auch bei der Arbeit. Eine Freundin hat ihn ihr geschenkt. Die junge Frau ist sich aber ziemlich sicher: »Er scheint mir der richtige Kandidat für die Präsidentschaft 2006.«

Wer Mexiko-Stadt heute besucht, findet viele Hinweise auf López Obradors Popularität. Das herausgeputzte Stadtzentrum erinnert mit seinen Fußgängerzonen an das elegante Madrid. Die Schlaglöcher auf den Prachtboulevards Insurgentes und Reforma hat die Stadt zubetonieren lassen; auf Mittelstreifen wurden bunte Blumenbeete angelegt. Das Verkehrschaos versucht der Bürgermeister mit ehrgeizigen Bauprojekten in den Griff zu bekommen. Im Süden läuft der Ausbau des segundo piso, des zweiten Stockwerks der Stadtautobahn, auf Hochtouren. Der frühere ständige Stau löst sich nun in luftigen Höhen auf. Das überzeugt viele der verkehrsgeplagten Mexikaner in der Autofahrerstadt.

Für die Studentin Valeria ist das allerdings der falsche Weg. Die 26jährige gerät in Rage, wenn sie nach dem Bürgermeister gefragt wird. Sie hat kein Auto und ist auf ein funktionierendes U-Bahn- und Busnetz angewiesen. In der Innenstadt entsteht zwar eine neue Metrobuslinie, aber das reicht ihr nicht. »López Obrador tut viel zu wenig, um den Verkehrskollaps in der Stadt zu verhindern«, sagt Valeria. »Wir brauchen eine Totalreform des öffentlichen Verkehrssystems. Manche Busfahrer hier können noch nicht einmal richtig fahren.«

Valeria bezweifelt, dass López Obrador die richtige Politik betreibt. »Er richtet seine Arbeit daran aus, was öffentlich sichtbar ist und gut ankommt.« Beispiele für diesen Aktionismus gibt es tatsächlich genug: So holte Amlo New Yorks früheren Bürgermeister Rudolph Giuliani als Sicherheitsberater in die Stadt. Giuliani entwarf ein rigoroses »Null-Toleranz-Programm« zur Bekämpfung der Kriminalität. »Gebracht hat das gar nichts«, sagt Valeria, »aber viel Geld gekostet hat es.«

Auch die Bewegung Antorchista ist nicht von Amlos Arbeit überzeugt. Vertreter der »Organisation für die Armen Mexikos« zelten seit Monaten auf dem Zócalo. Es ist schwül in dem kargen Zelt; ein paar Säcke mit Zwiebeln stehen in der Ecke. Auf einem Holztisch liegen Flugblätter aus. Seit vier Jahren fordert Antorchista immer wieder aufs Neue von López Obrador, mehr Schulen in den Armenvierteln einzurichten, sagt die 17jährige Schülerin Rosalba. »Wir wollen keine Stadtautobahn mit zwei Stockwerken.« Omar, 22, fügt hinzu: »Der Prozess um die Immunität López Obradors ist uns egal.« Der Bürgermeister solle ruhig Recht bekommen. »Wir wollen Antworten auf die Frage der Bildung, und dass er unsere Forderungen erfüllt.«

Am Donnerstag vergangener Woche folgten mehr als 300 000 Menschen dem Aufruf des PRD und strömten auf den Platz, um für ihren Helden zu demonstrieren. »D-Day für Amlo«, schrieben die Zeitungen, als die Entscheidung des Nationalparlamentes über den »desafuero« des Bürgermeisters anstand. Zuvor hatte López Obrador angekündigt, er werde sich »mit Würde« gegen alle Angriffe verteidigen und sei bereit, für seine politischen Rechte zu kämpfen – wenn nötig, auch vom Gefängnis aus. »Mexiko und sein Volk verdienen ein besseres Schicksal«, erklärte er feierlich bei seiner Ansprache auf dem Zócalo. »Sie werden uns nicht das Recht auf die Hoffnung nehmen können.«

360 Abgeordnete stimmten für die Entziehung der Immunität, 127 dagegen, zwei enthielten sich. Die Mehrheit aus Pan und Pri setzte sich erwartungsgemäß durch. Vor dem Votum hatte Andrés Manuel López Obrador eine halbe Stunde Zeit, sich zu verteidigen. Es gehe in der Debatte um zwei gänzlich verschiedene »Projekte der Nation«, sagte er. Seine Regierung habe in Mexiko-Stadt gezeigt, wie Wachstum und Arbeitsplätze entstehen; sie kümmere sich um die »einfachsten und die vergessenen« Menschen. Der Staat dagegen setze auf die Interessen Einzelner und der Wirtschaft, während die Ungleichheit im Land wachse. »Sie werden über mich urteilen«, so López Obrador abschließend zu den Abgeordneten, »aber vergessen Sie nicht, dass das Urteil der Geschichte über sie und mich noch aussteht. Es lebe die Würde! Es lebe Mexiko!«