Schurkenstaat BRD

Trotz aller Ausstiegsrhetorik baut Siemens nach wie vor Atomkraftwerke, und in Garching bei München wird mit waffenfähigem Uran geforscht. von jörg kronauer

Die 68er kommen ins Rentenalter. Jüngster Fall ist das Kernkraftwerk Obrigheim. Nach rund 37 Jahren Laufzeit soll der dienstälteste deutsche Atommeiler, der im Jahr des Attentats auf Rudi Dutschke zu arbeiten begann, Ende April abgeschaltet werden.

Von einem »Umbruch im Erzeugungs-Mix«, spricht die Betreibergesellschaft EnBW. Jetzt stünden »Investitionen in konventionelle Kraftwerke und erneuerbare Energien« auf der Tagesordnung. Auch die Grünen sind mit dem »Einstieg in den Ausstieg« zufrieden. »2020 wird das letzte Atomkraftwerk vom Netz gehen«, verspricht der Staatssekretär im Bundesumweltministerium, Rainer Baake.

Ist die Bundesrepublik in 15 Jahren eine atomenergiefreie Zone? Ein gewisses Rumoren in Kreisen der Wirtschaft nährt Zweifel daran. »Die politische Festlegung auf einen Ausstieg aus der Kernenergie muss zurückgenommen werden«, meinte der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Martin Wansleben, bereits im Januar. Jürgen Thumann, der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), kündigte im März eine neue Studie zur Atomthematik an. Die Ergebnisse wolle man zum Anlass nehmen, um in neue Verhandlungen über Atomenergie einzutreten. Die Restlaufzeiten der deutschen Atomkraftwerke müssten auf jeden Fall verlängert werden, meint der BDI. Obrigheim, der leistungsschwächste deutsche Meiler, ist für die deutsche Atomwirtschaft kein großer Verlust. Andere Kraftwerke wären das schon.

Eine neue Debatte um den »Ausstieg aus dem Ausstieg« beginnt sich abzuzeichnen. Der parteipolitische Frontverlauf ist dabei ganz der alte: Während die Grünen sich von der noch jungen, aufstrebenden Umweltindustrie mit ihren erneuerbaren Energien hofieren lassen, bedienen Union und FDP die Atomindustrie. Es sei »sinnvoll und notwendig, die Restlaufzeiten bestehender Kernkraftwerke (…) zu verlängern«, sagt Peter Paziorek, der umweltpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. »Die Entscheidung zur weiteren Nutzung der Kernenergie sollte (…) eine unternehmerische Entscheidung sein«, verlangt Gudrun Kopp, die energiepolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion.

Während die Atomwirtschaft sich um die deutschen Atomkraftwerke sorgt und die Anti-AKW-Bewegung sich in den letzten Jahren vor allem auf die Atomtransporte konzentrierte, zeichnen sich neue Konflikte zwischen dem Umwelt- und dem Wirtschaftsministerium ab. Dabei geht es um den »Ausstieg im Ausland«, um internationale Atomgeschäfte. Mit insgesamt 28 Staaten hat die Bundesrepublik Atomenergie-Abkommen geschlossen. »Verträge mit anderen Staaten, die der Förderung der Kernenergie dienen, werden mit dem Ziel überprüft, ob sie aufzuheben oder anzupassen sind«, heißt es in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung.

Über die Konsequenzen sind sich Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) nicht ganz einig. Der bestehende Atomvertrag mit Südkorea etwa müsse bis Oktober gekündigt werden, verlangt das Umweltministerium. Das schade der deutschen Außen- und Außenwirtschaftspolitik in Ostasien, beschwert sich das Wirtschaftsministerium. Im vorigen Herbst stritten Trittin und Clement über die Atomkooperation mit Brasilien. Die Auseinandersetzungen seien noch nicht abgeschlossen, den Nuklearvertrag habe man daher vorläufig um fünf Jahre verlängert, berichtet das Handelsblatt süffisant. Und verweist auf einen weiteren pikanten Fall: Im November 2006 könnte ein bestehendes deutsch-iranisches Atomabkommen gekündigt werden. Ablehnende Stimmen kamen jedoch bereits aus dem Wirtschaftsministerium und dem Auswärtigen Amt.

Vorteilhaft sind derlei internationale Kooperationen unter anderem für den deutschen Siemens-Konzern. Die Siemens-Beteiligungsgesellschaft Framatome ANP, ein Zusammenschluss der Atomsparte des Münchner Konzerns mit der französischen Atomwirtschaft, ist inzwischen die weltweit führende Anbieterin von Atomkraftwerkstechnik. Für die Renaissance der Atomenergie gilt es, sich gute Startpositionen zu sichern. »Es gibt nur noch eine Hand voll Anbieter, die, wenn irgendwo ein Kraftwerk gebaut wird, mit großer Wahrscheinlichkeit mitmachen«, sagt Henrik Paulitz, Atomenergie-Referent des Vereins Internationale Ärzte für Verhütung des Atomkriegs, der Jungle World. Wer die besten Verbindungen hat, hat auch die größten Aussichten auf gute Geschäfte.

Siemens hat alle derzeit in Betrieb befindlichen deutschen Atomkraftwerke gebaut und errichtet derzeit weitere in Finnland und China. Auch der umstrittene Forschungsreaktor FRM-II in Garching bei München wurde von dem deutschen Konzern installiert. »Momentan wird die endgültige Übergabe des FRM-II vom Generalunternehmer Siemens an die TU München vorbereitet«, bestätigt die Pressesprecherin des Garchinger Teams. Insider mutmaßen, der Routinebetrieb könne im Herbst aufgenommen werden. Der politisch brisanteste Reaktor in Deutschland wäre dann endgültig etabliert.

Der FRM-II in Garching sorgt sogar international für Unruhe. Denn dort wird hoch angereichertes Uran als Brennstoff verwendet. Damit kann man, das nötige Know-how vorausgesetzt, Atomwaffen bauen. Seit Jahrzehnten gibt es Bemühungen, zivile Forschungsreaktoren auf niedrig angereichertes Uran umzustellen, um waffenfähiges Material möglichst umfassend aus dem Verkehr zu ziehen. Das internationale RERTR-Programm (Reduced Enrichment for Research and Test Reactors) aus dem Jahr 1978 verzeichnet durchaus Erfolge. Doch »Garching schert aus diesem Programm aus und gibt weltweit ein schlechtes Beispiel«, kritisiert Christina Hacker, die Leiterin der Arbeitsgruppe Radioaktivität am Umweltinstitut München, im Gespräch mit der Jungle World.

Vergeblich hat die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) versucht, die Aufrüstung des deutschen Reaktors zu verhindern. »Es gab keine Möglichkeit für uns, sie davon abzubringen«, erklärte der Sprecher der IAEO, David Kyd, im Herbst 2001. Die Verwendung des hoch angereicherten Urans sei »ein unangenehmer – und sehr gefährlicher – Anachronismus«, warnten US-amerikanische Wissenschaftler damals. Das Ergebnis der internationalen Proteste war ein vorgeblicher Kompromiss: Bis Ende 2010 soll der FRM-II auf maximal 50 Prozent angereichertes Uran umgestellt werden. Das ist Augenwischerei, meint Hacker: »Alles, was über 20 Prozent liegt, gilt als waffenfähig.«

In Garching scheint man mit Zähnen und Klauen um jedes Anreicherungsprozent zu kämpfen. Eine Arbeitsgruppe der TU München beschäftigt sich mit Möglichkeiten, den Betrieb des Reaktors unter die Grenze von 50 Prozent zu senken – mit recht zweifelhaftem Erfolg, bedauert Hacker. Dabei gebe es in den USA eine Forschungsgruppe, die am selben Problem arbeite und ganz offenkundig auf besserem Wege sei: »Das interessiert die Garchinger nicht sonderlich, es gibt keine Kooperation mit den Amerikanern«, sagt Christina Hacker vom Umweltinstitut. Man scheint auf Biegen und Brechen mit atomwaffenfähigem Uran arbeiten zu wollen. Andere Länder hätten deshalb den Status eines »Schurkenstaats«.