Gut für die gesamte Menschheit

Interview mit simonas alperavicius, dem Präsidenten der jüdischen Gemeinde Litauens, die etwa 5 000 Mitglieder zählt.

In Litauen wird die Rote Armee weniger als Befreier denn als Besatzer gesehen, wie ist Ihre Sicht?

Aus jüdischer Sicht war die sowjetische Besatzung die mildere Perspektive. Sie rettete uns das Leben. Für das litauische Volk wechselte zwar nur das Regime, doch war die Tatsache, dass die Nazis besiegt wurden, gut für die gesamte Menschheit.

Konnten die Überlebenden nach der Befreiung das kulturelle und religiöse jüdische Leben wieder aufnehmen?

Nein, im Gegenteil. Die nach der Befreiung gegründeten jüdischen Organisationen wurden von den Sowjets schnell wieder aufgelöst. So wurde das nach Kriegsende gegründete jüdische Museum bereits 1946 wieder geschlossen. Erst Ende der fünfziger Jahre konnte durch Privatinitiativen jüdisches Leben wieder entstehen. Der einzige jüdische Ort, der durchgängig existierte, war die Synagoge in Vilnius. Diese wurde streng vom KGB überwacht.

Was macht die jüdische Gemeinde in diesem Jahr am 9. Mai?

Zusammen mit dem Verband der jüdischen Weltkriegsveteranen organisiert die Gemeinde eine Reihe von Veranstaltungen. So wird es Zeremonien in Paneriai geben, dem Schauplatz der größten Massenerschießungen. In dem Waldstück bei Vilnius ermordeten die Nazis über 100 000 Zivilisten, 70 000 von ihnen waren Juden, viele aus dem Wilnaer Ghetto. Auf dem Jüdischen Friedhof werden wir Kränze auf den Veteranengräbern niederlegen. Weitere Veranstaltungen wird es in den Räumen der jüdischen Gemeinde in Vilnius und vereinzelt im Rest des Landes geben. Der 9. Mai ist für uns einer der wichtigsten Tage, denn ohne die Befreiung vom Nazismus wäre niemand von uns am Leben.

Kommen die litauischen Juden in der staatlichen Erinnerungspolitik vor?

Allgemein kann man sagen, dass sich die Situation in den vergangenen Jahren gebessert hat. Die Schulbücher enthalten nun mehr Informationen über die Juden, ihre Geschichte und ihr kulturelles Erbe. Auch über die Zeit vor der Shoah. Doch der Unterricht über den Holocaust muss unbedingt verbessert werden. Dort muss noch mehr getan werden.

Wie sieht die Gedenkstättenpolitik in Litauen aus?

Die bekannteste Gedenkstätte steht in Paneriai. In Litauen gibt es insgesamt etwa 200 Orte, an denen während des Zweiten Weltkrieges Massenmorde stattgefunden haben. Kurz nach der litauischen Unabhängigkeit wurde ein Gesetz erlassen, das den Staat dazu verpflichtet, diese Orte zu lokalisieren und dort ein Gedenken zu ermöglichen. Doch die kommunalen Behörden, die nun dafür verantwortlich sind, vernachlässigen diese Aufgabe und sagen, sie hätten kein Geld. Eine positive Entwicklung ist, dass Präsident Valdas Adamkus am 8. Mai die Gedenkstätte in Paneriai besuchen wird, um dort der jüdischen Ermordeten und auch der russischen und polnischen Toten zu gedenken.

Eine positive Entwicklung auf anderer Ebene zeigt der Fall des litauischen Nationalisten Mindaugas Murza. Er äußerte sich Anfang des Monats auf der Gründungssitzung seiner neuen Vereinten Nationalen Arbeiterpartei antisemitisch. Die Polizei beschlagnahmte daraufhin einige Computer seiner Partei und nahm Ermittlungen auf.

Hat sich das Verhältnis Litauens zu Russland in den vergangenen Jahren verändert? Und hatte das Auswirkungen auf die jüdische Gemeinde?

Als Außenseiter kann ich keine großen Veränderungen feststellen, außer den normalen Schwankungen, die es immer im Verhältnis zweier Länder gibt. Doch selbst wenn sich die Verhältnisse ändern würden, hätte das wohl keine Auswirkungen auf die jüdische Gemeinde.

interview: alexander korb