Der Schrei ist ein Magnet

Bilder von Edvard Munch werden immer wieder aus norwegischen Museen gestohlen. Zwei Gemälde sollen die Diebe Presseberichten zufolge mittlerweile verbrannt haben. von elke wittich

Warum der norwegische Impressionist Edvard Munch die meisten seiner Bilder gleich mehrmals malte, ist nicht genau bekannt. Auf keinen Fall aber konnte er geahnt haben, dass seine Werke in Norwegen dereinst notorisch geraubt werden und die Museen dann praktischerweise bis zur Rückgabe der Gemälde die Zweit- und Drittversionen aufhängen können. Gerade auf Munchs bekannteste Werke »Der Schrei« und »Madonna« haben es die meisten Täter abgesehen.

Am Donnerstag vergangener Woche meldete die norwegische Tageszeitung Dagbladet, dass die beiden Gemälde von Dieben verbrannt worden seien, um Spuren zu verwischen. Die Polizei gibt sich noch zuversichtlich und behauptet, davon sei ihr nichts bekannt. Die Bilder waren am 22. August vergangenen Jahres aus dem Osloer Munch-Museum gestohlen worden. Drei Verdächtige sitzen deswegen seit einigen Wochen in Untersuchungshaft.

Drei mit Maschinenpistolen bewaffnete, vermummte Männer waren im August während der Öffnungszeiten in das Museum eingedrungen. Augenzeugen erklärten später, sie seien wegen des kaltblütigen und präzisen Vorgehens der Vermummten von einem Überfall von Terroristen ausgegangen. Die Täter kannten sich augenscheinlich sehr gut aus. Zielsicher rissen sie die nur mit Drähten an der Wand befestigten und nicht durch Alarmanlagen gesicherten Bilder »Der Schrei« und »Madonna« herunter. Ihr Fluchtauto wurde wenig später in der Nähe eines Osloer Tennisclubs gefunden. Passanten entdeckten kurz darauf die Rahmen, aus denen die Bilder gerissen worden waren.

Von Munchs »Schrei« existieren vier Versionen. Eine gehört einem privaten Sammler, zwei waren bis zu dem Überfall im Besitz des Munch-Museums, die geraubte hing in der Ausstellung, während die andere im Lager verwahrt wird. Das vierte Gemälde gehörte zur Sammlung der Nationalgalerie, wo es am 12. Februar 1994 gestohlen wurde. Das Bild, so Kunstpsychologen, wirke auf psychisch instabile Menschen oftmals wie ein Magnet, weil sie sich in dem dargestellten Entsetzen wieder zu erkennen glaubten. Die Zerstörungs- und Diebstahlgefahr sei daher extrem hoch.

Das Gemälde sei, schrieb der Maler in sein Tagebuch, nach einem für ihn verstörenden Erlebnis entstanden: »Ich ging mit zwei Freunden die Straße entlang, die Sonne ging unter – ich spürte einen Hauch von Schwermut – der Himmel färbte sich plötzlich blutig rot. Ich blieb stehen, lehnte mich todmüde gegen einen Zaun – sah die flammenden Wolken wie Blut und Schwerter – den blauschwarzen Fjord und die Stadt – meine Freunde gingen weiter – ich stand da zitternd vor Angst – und fühlte, wie ein langer unendlicher Schrei durch die Natur ging.«

Er wusste, wovon er sprach, wenn er von Angst und Verzweiflung berichtete. Seine Mutter starb, als er gerade fünf Jahre alt war, sein Vater hatte religiöse Wahnvorstellungen, er selber litt an Depressionen.

In Rom, wo kurz nach dem Diebstahl eine Munch-Ausstellung eröffnet wurde, zeigten sich internationale Kunstkenner sehr befremdet darüber, wie sorglos die norwegischen Museen mit dem Werk des Malers umgehen. Vor allem, als bekannt wurde, dass in der Osloer Unterwelt das Gerücht kursiert, die Bilder seien schwer beschädigt worden. Dass es keinerlei Sicherheitsmaßnahmen gab, sei geradezu sträflicher Leichtsinn, hieß es. »Bilder sind ähnlich leichte Opfer wie Kinder – und stumme noch dazu, selbst wenn sie ›Der Schrei‹ heißen«, erklärte etwa der italienische Sammler Achille Bonito Oliva. Reiche Kunstliebhaber, so viel sei bekannt, würden schließlich große Summen für das Privileg zahlen, ein Meisterwerk zu besitzen, selbst wenn sie es nur im Tresor aufbewahren können.

Ermittlungen der norwegischen Kripo ergaben dann jedoch, dass »Madonna« und »Der Schrei« wohl nicht im Auftrag eines Sammlers geraubt wurden. Der Kunstraub sei nur ein Ablenkungsmanöver, um die ermittelnden Polizeibeamten in Atem zu halten und die Arbeitszeit der Sonderkommission zu binden. Einige Monate zuvor geschah ein Raubüberfall, wie es ihn in dem bevölkerungsarmen Land noch nie zuvor gegeben hatte. Ziel war Nokas, eine in Stavanger ansässige Tochterfirma des staatlichen Geldinstituts Norges Bank. Am Morgen des 5. April 2004 versammelten sich elf oder zwölf schwer bewaffnete Männer vor der Zentrale des Norsk Kontantservice. Fünf von ihnen drangen in das Gebäude ein, wo sie CS-Gas versprühten und die Angestellten in Schach hielten, der Rest sicherte den Eingang. Während des insgesamt zwölf Minuten dauernden Überfalls sammelten die Täter die Bargeldbestände von Nokas ein. Sie erbeuteten mehr als sieben Millionen Euro. Als sie flüchten wollten, kam ein Funkstreifenwagen zum Tatort. Die Täter eröffneten sofort das Feuer und erschossen einen unbewaffneten 53jährigen Streifenpolizisten.

Nokas wurde, wie die Ermittlungen ergaben, überfallen, weil die Täter mit einer Beute von 150 Millionen Euro gerechnet hatten. Sie wollten sich mit dem Rekordcoup internationales Renommee verschaffen. Wie sich herausstellte, wurde das erbeutete Geld dafür verwendet, um einen Haschischimportring aufzuziehen.

Vor einem Monat, auf den Tag genau ein Jahr nach dem Überfall auf Nokas, wurde der 28jährige David Alexander Toska im spanischen Malaga verhaftet. Nach Informationen aus norwegischen Kriminellenkreisen, so heißt es bei der Polizei, war er der Drahtzieher beim Überfall auf Nokas. Schon einige Wochen zuvor waren zwei weitere Norweger verhaftet worden. Der eine soll das Fluchtauto beschafft haben und der andere an dem Überfall direkt beteiligt gewesen sein. Bei Toskas Verhaftung wurden 850 Kilogramm Haschisch gefunden, die nach Skandinavien exportiert werden sollten. Es sei vorstellbar, dass Verhaftungen auch dazu führen könnten, dass der Kunstraub endlich aufgeklärt werden könne, erklärte die Kripo. Damals rechnete man stündlich damit, die Bilder aufzufinden.

Wobei, so ist zu befürchten, trotz verstärkter Sicherheitsmaßnahmen in Norwegen auch weiterhin nach dem Kunstraub vor dem Kunstraub sein dürfte. Inspiriert von den Gemäldediebstählen hat gerade erst vor zwei Wochen ein Mann ein Bild aus dem Rathaus der südnorwegischen Stadt Moss gestohlen. Mit großem Fahndungsdruck muss dieser Täter allerdings nicht rechnen. Hans Ole Ziegler, Verwaltungsmitarbeiter der Stadt, erklärte: »Das Bild ist vollständig wertlos. Es handelt sich einfach nur um einen hübsch gerahmten Offsetdruck, der nicht einmal im Verzeichnis der Mosser Kunstsammlung registriert ist.«