Feiern wie die Sieger

Der 8. Mai 2005 ist ein »Tag der Befreiung« von den außenpolitischen Zwängen der Nachkriegszeit. von richard gebhardt

Niederlage, Kapitulation, Zusammenbruch, Besatzung, Befreiung – während über Jahrzehnte erbitterte Auseinandersetzungen die historische Einordnung des 8. Mai 1945 begleiteten, ist die Verwendung des Terminus »Befreiung« heute allgemein üblich. Die widerspenstige Generation der Alfred Dreggers und Erich Mendes ist längst Geschichte; ein neuer Ernst Nolte, der die Historikerzunft in dieser Frage zum Streit herausfordern könnte, nicht in Sicht.

Diejenigen, die sich der Sprachregelung der Berliner Republik verweigern, sind vor allem Traditionspfleger der Bundeswehr, die ähnlich den pikierten Ruheständlern des Auswärtigen Amtes ihre Schwierigkeiten mit den neuen Gepflogenheiten haben. In einem Land aber, in dem das stärkste Argument gegen die neue Nachrufpraxis des Amtes die NSDAP-Mitgliedschaft der ehemaligen Außenminister Scheel und Genscher ist, darf weiter mit Überraschungen gerechnet werden. Auch »60 Jahre danach« ist der »Schatten Hitlers« noch präsent.

Die bedeutendste historische Zäsur in der Kontroverse um den 8. Mai war Richard von Weizsäckers im Jahr 1985 gehaltene Rede »zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft«. Seiner berühmten Aussage »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung« wurde international viel Respekt gezollt, und auch dem Hinweis des Bundespräsidenten auf den Widerstand der Kommunisten wurde in der Ära der »friedlichen Koexistenz« besondere Beachtung geschenkt. Bis heute wird die von rechter Seite heftig angefeindete Rede auch als Ausdruck einer Arbeitsteilung der Konservativen gelesen. Der Berliner Freiherr aus traditionsreicher Familie mehrte mit feinem Gespür für das richtige Wort zur rechten Zeit das weltweite Renommee, während der mit der »Gnade der späten Geburt« gesegnete Pfälzer Kanzler mit seinem Beitrag zur »Versöhnung« an den Gräbern der Waffen-SS in Bitburg für internationale Verstimmungen sorgte.

Ein genauer Blick auf die Rede Weizsäckers zeigt jedoch, dass er keineswegs nur Konzessionen an das internationale Publikum machte. In der Rede wurde ausdrücklich auf Flucht, Vertreibung und Gefangenschaft hingewiesen, darauf, dass »wir selbst zu Opfern unseres eigenen Krieges wurden«. Von Weizsäcker zeichnete ein durchaus ambivalentes Bild und konstatierte: »Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern … Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen.«

Was eifernden rechtskonservativen und neofaschistischen Kreisen als vaterlandsloses Geschwätz galt, wurde im liberalen und linken Spektrum als Paradigmenwechsel im Geschichtsbild der Bundesrepublik aufgefasst. Nur vereinzelt wurde eine dezidiert linke Kritik laut, die den in der Rede verwendeten Europa-Begriff als expansiv und gegen den »realen Sozialismus« gerichtet charakterisierte. Diese Kritik blieb aber marginal.

In der DDR dagegen wurde der 8. Mai bereits Jahrzehnte zuvor als »Tag der Befreiung« deklariert. Ein Umstand, der heute angesichts der Defizite im Faschismusbild des Staatssozialismus wohlfeil als Resultat eines »verordneten Antifaschismus« kritisiert wird. Als hätte ausgerechnet der westdeutsche »Antifaschismus« ohne US-Armee und Reeducation durchgesetzt werden können!

Tatsächlich verband sich mit der Rede Weizsäckers ein signifikanter Wechsel im bundesdeutschen Sprachgebrauch, war die ausdrückliche Erwähnung der »Befreiung« von der NS-Herrschaft, der Hinweis auf das »Ende eines Irrweges deutscher Geschichte« ein bemerkenswerter Schritt mit bewusst kalkulierten Reaktionen. Denn damals erreichte die Rede nicht wenige Altgediente, die im NS-Apparat Funktionsträger waren und nach 1945 in den Staatsdienst der BRD übernommen wurden. Nicht zuletzt der »Stahlhelm«-Flügel der Union äußerte deutliches Missfallen. Für diese ergrauten Herren war der 8. Mai 1945 freilich keineswegs ein »Tag der Befreiung«, gehört die Präsenz ehemaliger NSDAP-Anhänger in diesen Reihen doch zur Geschichte der deutschen Konservativen wie die Rattenlinie zum Vatikan.

Dass sich heute vor den Feierlichkeiten zum 8. Mai meist nur am rechten Rand Töne vernehmen lassen, die das Bild von der »Befreiung« in Frage stellen, hat verschiedene Gründe. Die belasteten Zeitzeugen sind aus ihren Ämtern verschwunden. Das Ende des Kalten Krieges hat die außenpolitische Konstellation neu gestaltet, das politische Personal entspringt einer anderen Generation. Die keinesfalls als Lippenbekenntnis zu verstehende Anerkennung der »Befreiung« ist ein Türöffner für weiterreichende politische Ambitionen und unbefangene Bekenntnisse zur eigenen Herkunft. Ein Foto des Vaters in Wehrmachtsuniform auf dem Kanzlerschreibtisch wäre bei Kohl noch ein Skandal gewesen. Bei Schröder wird es zum tolerablen Ausdruck der individuellen Trauer.

Auch der Boom der Erinnerungsliteratur, welche den Faschismus als Familienroman erzählt, wird forciert von liberalen Intellektuellen, welche von den alten Konservativen aus echtem Schrot und Korn noch wahlweise als »Pinscher« oder »Ratten und Schmeißfliegen« beschimpft wurden. Erstaunlich ist dabei nicht die Tatsache, dass eine einfühlsame biographische Annäherung die nüchterne Analyse der Mechanismen des NS-Systems ersetzt, sondern die gängige Behauptung, eine derartige private Spurensuche sei bislang tabuisiert gewesen. Ehemalige 68er geißeln sich öffentlich ob ihrer Unfähigkeit, um die verlorenen Besitztümer im Osten zu trauern, und werden unterstützt von einem Diskurs, der für die Zeit nach 1968, »als ganze Kinderläden fast nur aus Sarahs und Davids bestanden« (taz-journal), eine Überidentifikation und Empathie mit den Opfern feststellt. Eine Empathie, die nach jahrzehntelangem Schweigen endlich auch den nicht jüdischen Deutschen zukomme.

Bezeichnend an dieser Einschätzung ist die darin manifest werdende Omnipotenzphantasie jenes Teils der Generation der 68er, der seine eigene Akademiker-Befindlichkeit mit der gesamtgesellschaftlichen Realität verwechselt. Schließlich war die philosemitische Emphase in der Bevölkerung so verbreitet wie antiautoritäre Kinderbetreuung in den Opelwerken oder Klezmermusik auf deutschen Schützenfesten. In einem Land, in dem jahrzehntelang unzählige Ehrenmale und Soldatenfriedhöfe gepflegt und mit Kränzen bedacht wurden, während gleichzeitig die Gräber von Zwangsarbeitern verkümmerten, gerät die Behauptung eines Tabus im Gedenken an die »eigenen« Opfer (während die Juden die »Anderen« bleiben) zur ideologischen Figur, deren Beliebtheit Verwunderung hervorruft.

Ist der Verband Deutscher Kriegsgräberfürsorge (VdK) demnach eine klandestine Organisation? Fand der Volkstrauertag nach 1968 nur im Verborgenen statt? Wurden die Grußworte deutscher Provinzbürgermeister an die in der Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit (Hiag) versammelten ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS per Kassiber zugestellt? Mussten die Vertriebenenverbände ihre Schlesiertage in der sozialliberalen Ära unter Ausschluss der Öffentlichkeit abhalten?

Bezeichnend ist die plumpe Verkehrung der Realität, die sich in dieser Debatte manifestiert. Wer in den fünfziger und sechziger Jahren z.B. Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) war, musste mit Verfolgung, Parteiausschluss und Berufsverbot rechnen. Die in Weizsäckers Rede gewürdigten Kommunisten wurden unter Adenauer inhaftiert, ins Exil gedrängt und von Richtern, die bereits für die NS-Justiz tätig waren, verurteilt. Wer wie der Marburger Staatsrechtler und Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth als Nazigegner an einen bundesdeutschen Lehrstuhl zurückkehrte, musste noch in den Siebzigern mit Denunziation rechnen. Wer in der bayerischen Provinz die Nazivergangenheit erforschen wollte, traf noch in den Achtzigern auf behördliche Schikanen, den Psychoterror der Einheimischen und die verschlossenen Türen der Geschichtsvereine. Wer heute von einer Überidentifikation mit den Opfern spricht, verwechselt die bundesdeutsche Vergangenheitspolitik mit einer alternativen Geschichtswerkstatt und erklärt ein wichtiges Mosaiksteinchen zum Gesamtbild.

Zudem kursiert das Gerücht, das westdeutsche Kulturleben sei nach 1945 von Emigranten und Antinazis dominiert worden. Musste also Wagners »Parzifal« heimlich im Keller der Villa Hügel aufgeführt werden? Konnten Arno Brekers germanische Skulpturen nur gegen Vorlage des Entnazifizierungsscheins betrachtet werden? Wurden die »Stahlgewitter« von Ernst Jünger nur unter dem Ladentisch verkauft? Trafen sich deutsche Politiker nur heimlich, still und leise zum Gedankenaustausch mit dem berühmten Käfersammler? Stand Heidegger in seiner Schwarzwälder Hütte unter Hausarrest?

Die Verklärung der bundesdeutschen Vergangenheitspolitik und Kulturlandschaft korrespondiert heute mit einem rot-grünen Selbstbild, welches die Notwendigkeit der »Befreiung« nachdrücklich akzeptiert. Und Gerhard Schröder agiert als Geschichtspolitiker nicht ohne taktische Finesse. Agitiert Martin Walser in seiner Gegenwart gegen den Versailler Vertrag, kann der Kanzler mit ruhiger Hand auf Distanz gehen. Eröffnet Schröder die Collection des Erben Flick, der sich bis zu seiner verspäteten Zahlung im April »auf ganz persönliche Weise« (Schröder) dem »Erinnerungsdienst« verweigert hatte, wird er zum Verteidiger des privaten Gewissens gegen das moralisierende Gedöns der Kritiker.

Mit Erfolg: Meinungsmacher wie der stern-Kommentator Hans-Ulrich Jörges nennen Schröder im Tonfall der Jungen Freiheit unter dem Titel »Schlussstrich mit links« einen »Erlöser, der Schluss macht mit vergangenheitsverhafteter Selbstkasteiung«. Die Verwendung der rhetorischen Figur vom »Tag der Befreiung« ist dafür Voraussetzung, nicht Hindernis. Was bei seinem sozialdemokratischen Vorgänger, Oberstleutnant a.D. Helmut Schmidt, noch als Zumutung empfunden worden wäre, wird in der neuen internationalen Konstellation und Generationenlage zum vertrauten Bild: Der deutsche Kanzler feiert Siegesfeste auf der Seite der Gewinner des Zweiten Weltkriegs.

Der 8. Mai 2005 ist ein »Tag der Befreiung« von außenpolitischen Beschränkungen und Auflagen. Die Nachkriegszeit ist vorbei. Der deutsche Platz ist, ob im vergangenen Sommer in der Normandie oder am 9. Mai in Moskau, an der Seite der Sieger.