Hoch! Die! Auf! Zum!

Es gab wieder mal viel Arbeit am Tag der Arbeit. Nazis in Leipzig, Klassenkampf in Hamburg, nur Berlin entspannte sich. von unseren korrespondenten

Seit’ an Seit’

Den Saisonauftakt auf der Galopprennbahn Scheibenholz müssen sich die Antifas in Leipzig entgehen lassen. Schließlich hat der Hamburger Neonazi Christian Worch erneut zu einem Aufmarsch aufgerufen. Wie bereits am 3.Oktober 2004 ist das Ziel der Stadtteil Connewitz. Das sächsische Oberverwaltungsgericht hat die Route des Aufmarsches vom Hauptbahnhof in jenen Stadtteil, der seit Mitte der neunziger Jahre als No-Go-Area für Neonazis gilt, genehmigt, ungeachtet der Sicherheitsbedenken der Stadt.

Am frühen Morgen geht es erstmal zur Demonstration der IG Metall. Vom Lautsprecherwagen wird verkündet, dass die Nazi-Demonstration verhindert werden soll. Im vorderen Teil des Zuges latschen die Gewerkschafter und die PDS. Unter den kleineren Gruppen macht vor allem das Forum Soziale Gerechtigkeit mit Losungen wie »Arbeit für Millionen statt Milliarden für den Krieg« und »Mindestlohn statt Völkerhetze« auf sich aufmerksam.

Wird in diesem Teil die Lyrik zumeist Chorsängern oder Hannes Wader überlassen, werden hinten im »kämpferischen Block« Handzettel mit »Demosprüchen gegen Nazis und Sozialabbau« für die kollektive Deklamation gereicht. Hier haben sich unter anderem die Freie ArbeiterInnen Union (FAU), die Sozialistische Alternative Voran (SAV) und die Linke StudentInnen Gruppe (LSG) versammelt. Dieser Block hat sich viel vorgenommen: »Arbeitszeit verkürzen – Löhne steigern« und zugleich den »Kapitalismus überwinden«, »Nationalismus und Antisemitismus bekämpfen« und »rassistische Ausgrenzung beseitigen«. In Reimen zusammengefasst: »Niedriglohn und Zwangsarbeit / Dafür ha’m wir keine Zeit« oder »Erster Mai statt Barbarei / Arbeiterkampftag – nazifrei«.

Am Augustusplatz schließlich teilt sich der Zug. Während der vordere Teil auf der Maikundgebung von Stadt und Gewerkschaften bleibt, bewegt sich der »kämpferische Block« weiter, man will den Nazi-Aufmarsch blockieren. Dies gelingt zunächst am Hauptbahnhof, es folgt eine zähe Wartezeit in der Mittagshitze, während die Nazis gefilzt und kontrolliert werden. Vereinzelt fliegen Flaschen und werden Leuchtraketen gezündet. Nach mehr als drei Stunden löst die Polizei die Blockade auf.

Die Gegendemonstranten sammeln sich am Augustusplatz erneut, so dass der Nazi-Aufmarsch vorläufig wieder zum Stehen kommt. Eine Straßenseite ist für eine genehmigte Gegenkundgebung freigegeben, die andere Seite wird von Wasserwerfern geräumt. Die etwa 800 Nazis können weiter marschieren, an 2 000 bis 4 000 ihrer Gegner vorbei, getrennt nur durch die Polizisten auf den Straßenbahnschienen. Es fliegen Gegenstände durch die Luft, die Polizei nimmt etliche Leute fest. 102 Personen werden an dem Tag insgesamt in Gewahrsam genommen, drei Viertel davon aus dem linken Spektrum, gibt die Polizei am nächsten Tag bekannt.

Etwa auf Höhe des Gewandhauses wird die Nazi-Demonstration am frühen Abend beendet, fernab von Connewitz zwar, doch anders als noch im Herbst 2004 nach einem Marsch von einigen hundert Metern.

marius bar

Die neue Loveparade

Am Morgen versammeln sich in Hamburg 5 000 Menschen auf der Demonstration des DGB unter der knallharten Losung: »Du bist mehr als eine Nummer. Mehr als ein Kostenfaktor. Du hast Würde. Zeige sie!« Aufgeschreckt von Hartz IV und sozialdemokratischem Antikapitalismus demonstrieren sie mehrheitlich für den Frieden mit dem System, den zu schließen sie nach wie vor bereit sind. Die öde Veranstaltung endet bei Bratwurst, einem frühen Bier und schlechter Musik. Wie sagt der DGB-Vorsitzende Michael Sommer so treffend auf dem Weg zur zentralen Kundgebung der Gewerkschaften in Mannheim: »Der 1. Mai ist nicht nur ein Kampftag, sondern auch ein Feiertag für uns.«

Wer nach diesem Trip in die Vergangenheit, die noch immer Gegenwart ist, einen Blick in eine mögliche Zukunft werfen will, ist auf dem Euromayday gut aufgehoben. Diese Demonstration ist Teil einer europaweiten Aktion im Kampf um Rechte auf einem globalisierten prekären Arbeitsmarkt. Die Organisatoren aus dem antirassistischen Spektrum haben sich vor der Veranstaltung mit reichlich Kritik auseinanderzusetzen. Der Vorsatz, »ungewohnte Formen von sozialen, gewerkschaftlichen und politischen Kooperationen« auszuprobieren, ist vielen verdächtig. Das Konzept wird, u.a. von der FAU, als Loveparade, Karneval und Gejammer ohne grundsätzliche Kritik der Lohnarbeit bezeichnet, der Begriff der »Prekarisierung« erscheint manchem aus dem Erwerbslosenspektrum als studentischer Modebegriff.

»Wir sehen, dass der DGB noch auf dem Stand der siebziger Jahre argumentiert. Wir haben aber 2005, und es gibt nicht mehr die Illusion von z.B. unbefristeten Arbeitsverhältnissen. Euromayday versucht gerade, die Lage all derjenigen, die unter schlechten Bedingungen jenseits irgendwelcher Tarife in Zeitverträgen hängen, zu thematisieren«, erläutert Annette, eine der Organisatorinnen. 3 000 Menschen nehmen am Euromayday teil.

Die »revolutionäre« Mai-Demo am frühen Abend ist ein Rendezvous mit einer Gegenwart, die vielleicht bald der Vergangenheit angehört. Gemessen am Polizeiaufgebot mag diese Veranstaltung ein Erfolg sein: 800 Demonstranten stand die gesamte Hamburger Bereitschaftspolizei gegenüber. Inhaltlich wird jedoch antikapitalistische Hausmannskost geboten. »Kapitalismus abschaffen«, heißt es dort. Und das war’s.

andreas blechschmidt

Lob der Multitude

Die Multitude ist groß, die Multitude ist weise. Vielleicht ist es göttliche Inspiration. Wahlweise beim überkonfessionellen Open-Air-Gottesdienst auf dem Berliner Mariannenplatz oder am Informationsstand »Islamischer Religionsunterricht« kann man sie sich besorgen. Vielleicht haben auch die mobilen Gebetsteams, die für einen friedlichen 1. Mai beten, ihre Finger mit im Spiel. Aller Wahrscheinlichkeit nach aber ist es noch höhere Einsicht, ein urplötzlicher Einbruch von Weisheit, der über die Multitude kommt, an diesem 1. Mai.

Die Multitude genießt den Frühling, sie lungert vor den Kneipen herum, sie redet über alte Zeiten. Egal wohin sie sich zerstreut, überall herrscht Frieden auf den Straßen. Die Multitude schwitzt nicht mehr unter dicken schwarzen Kapuzenpullis, Hasskappen und Halstüchern, sondern kleidet sich der Jahreszeit angemessen. Sie lässt sich nicht provozieren, auch wenn die Polizei ihre Party stört. Sie bildet ein lustiges Spalier in der Kreuzberger Oranienstraße, in der die Polizei hin und her saust, und johlt freudig bei jedem Knall eines Böllers. Sie harrt geduldig bis in die Nachtstunden aus, um noch mehr Frieden zu säen und zu ernten.

Ein vermummter Autonomer, der auf dem Dach eines Polizeiautos steht und mit einem Baseballschläger darauf eindrischt, Polizisten, die angerannt kommen, ihm die Beine wegziehen, so dass er auf die Motorhaube donnert, und sich auf ihn stürzen. Eine aufgebrachte Menge rastagelockter und gepiercter junger Leute, die Parolen wie »Deutsche Polizisten: Mörder und Faschisten« skandiert und: »Haut ab!« Später brennt ein Auto, meterhoch schlagen die Flammen. – So sah es vor ein paar Wochen in der Wiener Straße aus, bei den Dreharbeiten zu einer RTL-Serie. Immer müssen sie übertreiben, diese Fernsehleute.

Die Multitude ist groß. Die Multitude ist weise.

anna gärtner und paul urban