Schlechte Blair-Condition

Die britische Labour Party hat zum dritten Mal die Wahlen gewonnen, diesmal nicht wegen, sondern trotz ihres Vorsitzenden. Aber das politische System Großbritanniens steckt in einer Legitimitätskrise. von matthias becker

Feierstimmung wollte bei der Labour Party in der Wahlnacht nicht aufkommen. Zwar gelang es erstmals in ihrer Geschichte, zum dritten Mal in Folge eine Mehrheit zu gewinn, aber sie ist drastisch geschrumpft und beträgt nur noch 66 statt 167 Unterhausmandate. Für den Sieg genügten 36 Prozent der Stimmen, womit ein zweiter Rekord aufgestellt wurde: Nie zuvor hat die regierende Partei so wenig Stimmen erhalten.

Es wird der Regierung Tony Blairs schwer fallen, mit einer solch knappen Mehrheit umstrittene Projekte wie etwa weitere Privatisierungen im öffentlichen Nahverkehr oder die Einführung von Personalausweisen zu realisieren. Künftig werden schon wenige entschlossene Abweichler in den eigenen Reihen ausreichen, um solche Initiativen zu blockieren.

»Tony Blair humpelt ins Amt«, beurteilen die Kommentatoren das schwache Abschneiden des Premierministers. Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Wahlen siegte Labour nicht wegen, sondern trotz Blairs. Die Konservativen gewannen einige Sitze hinzu, obwohl ihr Ergebnis von 33 Prozent der Stimmen fast unverändert blieb. Die Liberaldemokraten gewannen ebenfalls, aber auch sie blieben hinter ihren eigenen Erwartungen zurück. Sie sind nunmehr mit 62 Sitzen im Unterhaus vertreten.

In den letzten Tagen vor der Wahl dominierte ein Thema den Wahlkampf, das Blair und seine Berater am liebsten ganz verdrängt hätten: der Irak-Krieg. Aus dem Innenministerium wurde verschiedenen Medien ein Gutachten des höchsten Rechtsberaters der Regierung, Lord Peter Goldsmith, zugespielt, in dem er seine Zweifel an der völkerrechtlichen Legalität der Intervention ausgedrückt hatte. Daraufhin hatten Blairs Berater Druck auf Goldsmith ausgeübt, ohne ihn umstimmen zu können.

Aus anderen, als geheim klassifizierten Aufzeichnungen wird deutlich, wie die Regierung gezielt die Kriegsgründe »Menschenrechte« und »Massenvernichtungswaffen« als öffentliche Kampagne einplante. Nach der Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen stand wieder einmal die Glaubwürdigkeit des Premierministers zur Debatte. Die oppositionellen Tories, die allerdings nichts gegen eine enge Zusammenarbiet mit den Vereinigten Staaten einzuwenden haben, versuchten, diese Stimmung auszunutzen. »Wie kann man Blair vertrauen, wenn er beim Irak-Krieg gelogen hat?« hieß es auf einem ihrer Wahlplakate.

Der Irak-Krieg bestimmte auch auf lokaler Ebene die Parlamentswahlen. In Blairs eigenem Wahlkreis Sedgefield kandidierte der Vater eines im Irak getöteten Soldaten gegen ihn. Er konnte einige Stimmen auf sich ziehen, vor allem aber Blairs moralische Integrität untergraben, die dieser gerne öffentlich betont.

Die eigentliche Sensation aber ist der Erfolg des linken Wahlbündnisses Respect in dem Londoner Wahlbezirk Bethnal Green und Bow. Dort setzte sich George Galloway mit knapper Mehrheit gegen die Labour-Abgeordnete Oona King durch (siehe auch Jungle World, 18/05).

»Das ist die Quittung für den Krieg! All die Lügen, die sie erzählt haben, all die Menschen, die sie getötet haben, sind zurück, um sie heimzusuchen«, sagte Galloway in der Wahlnacht in Richtung Blairs. Galloway war während des Krieges aus der Labour Party ausgeschlossen worden, weil er nicht nur britische Soldaten zum Desertieren aufgefordert, sondern auch die irakischen Kämpfer zum Widerstand gegen die Invasoren ermutigt hatte. Die Liste Respect, bei der es sich um eine Vorfeldorganisation der trotzkistischen Socialist Workers Party (SWP) handelt, hatte ihren aussichtsreichsten Kandidaten in dem traditionell sozialdemokratischen Bezirk nominiert.

In den letzten Wahlen hatte Labour noch einen Vorsprung von zehn Prozent. Die Hälfte der Wahlberechtigten sind Muslime, viele sind Migranten aus Bangladesh. Galloways Erfolg hat eine hohe symbolische Bedeutung.

»Der Krieg hat unser Land gespalten«, gab der Premierminister zu, vermochte aber keine eigenen Fehler festzustellen. Nach der Wahl machen viele in der Partei sein gesunkenes Ansehen für das schlechte Ergebnis verantwortlich. Schon gibt es Spekulationen über seinen baldigen Rücktritt. Als Nachfolger wird der derzeitige Finanzminister, Gordon Brown, gehandelt.

Dabei war Blairs Wahlkampfstrategen seine gesunkene Glaubwürdigkeit durchaus bewusst. In den letzten Tagen vor der Wahl starteten sie die mit typischem Humor betitelte »Operation Linker mit Bart«. Sie bestand aus einer Reihe unverbindlicher Absichtserklärungen über die Bekämpfung von Aids und die Kontrolle des internationalen Waffenhandels.

So versuchte die Regierung, jene Wähler zurückzugewinnen, die sich wegen des Irak-Kriegs und der Sozial- und Wirtschaftspolitik von Labour abgewandt haben. Viele britische Linke können Labour »nicht einmal mehr mit einer Wäscheklammer auf der Nase« wählen, wie es die bekannte Kolumnistin Polly Toynbee ausdrückt. Zu einem kleinen Teil sind sie zu den Liberalen gewandert, die meisten allerdings wählen gar nicht mehr. Und ein gewisser Teil wird durch den prominenten Liedermacher Billy Bragg repräsentiert, der seit den achtziger Jahren so unermüdlich wie unbelehrbar gegen die Tories kämpft. »Ich wähle so wie immer«, sagte Bragg vor der Wahl in einem Interview, »gegen die Tories. Wer sie besiegen kann, kriegt meine Stimme.«

Wie sehr der Irak-Krieg das Wählerverhalten bestimmt hat, bleibt letztlich Spekulation. Auffällig ist aber die Wendung, die das Thema in den letzten beiden Jahren genommen hat. Obwohl die Zahl der zivilen Opfer und der getöteten Soldaten im Irak derzeit wieder steigt und es kaum Erfolgsmeldungen über die Demokratisierung des Landes gibt, sind nicht die augenblicklichen Schwierigkeiten der Besatzungsmächte das Thema, sondern die Propaganda, die im Frühjahr 2003 dem Krieg vorausging. Die verschiedenen Strategien, mit denen die Regierung damals die widerstrebende Bevölkerung zu manipulieren versuchte, taugen für immer neue Skandale, ganz so, als seien ansonsten Integrität und Aufrichtigkeit die Regel.

Das politische System Großbritanniens steckt in einer dauerhaften Legitimitätskrise; die politische Klasse ist diskreditiert. Die Wahlbeteiligung liegt bei 60 Prozent. Ohne jene, die ihre Unzufriedenheit mit Blair zum Ausdruck bringen wollten, wäre sie am 5. Mai wohl noch niedriger gewesen. Was bedeutet da schon die Frage, ob der Premierminister ein rechtliches Gutachten nicht mit der gebotenen Sorgfalt beachtet hat? Kürzlich brachte es ein Anrufer in einer Londoner Radiosendung auf den Punkt, als er meinte: »Mann, warum regt euch eigentlich diese eine Lüge so auf?«