Bei Lidl vor dem Tore

Praktische Kapitalismuskritik: Gewerkschafter und linke Gruppen protestieren gegen die Preis- und Lohnpolitik von Lidl. von jens benicke

Spätestens seit mit Hartz IV, Studiengebühren und der Ausweitung des Billiglohnsektors auch die letzten Bewohner linker Biotope mit der sozialen Realität konfrontiert werden, ist die soziale Frage in der radikalen Linken wieder aktuell. Doch obwohl viele bestrebt sind, das Betreiben linker Politik mit den eigenen Lebensverhältnissen in Verbindung zu bringen, geht die Tendenz nach wie vor zu Stellvertreterpolitik.

Als der Protest der »Agenturschlusskampagne« gegen Hartz IV zu Beginn des Jahres doch nicht den Klassenkampf auslöste, setzten sich einige Gruppen, die zuvor die Arbeitsagenturen lahm legen wollten, ein neues Ziel: Lidlschluss.

Mit Berufung auf das »Schwarzbuch Lidl«, das die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi im vergangenen Dezember symbolträchtig am Tag der Menschenrechte und mit großem Medienrummel veröffentlichte, wird gegen die verheerenden Arbeitsbedingungen bei dem Lebensmitteldiscounter protestiert.

So war bereits im Rahmen der Berliner Aktionswoche »Mai-Steine« ein Go-in bei einer Lidl-Filiale angesetzt, das jedoch vor den Türen des geschlossenen Supermarkts endete. Später besuchte eine Gruppe der »Überflüssigen«, die mit der Besetzung von Räumen der Berliner Arbeiterwohlfahrt im vergangenen Herbst auf sich aufmerksam gemacht hatten, eine andere Filiale. »Schließen wir uns zusammen! Lidl heißt Aldi, heißt Wal-Mart, heißt Schlecker, heißt Kneipe nebenan, heißt Opel Bochum«, schrieben die Aktivisten in dem verteilten Flugblatt. Für die nächsten Monate haben verschiedene Gruppen weitere Aktionen angekündigt.

So schlecht und kritikwürdig die Arbeitsbedingungen bei Lidl auch sind, der Hauptgrund für die Misere der Beschäftigten dort wie anderswo liegt in der kapitalistischen Verwertungslogik. Wegen der Tendenz zur Konzentration, die dem Waren produzierenden System innewohnt, wird der Konkurrenzkampf zwischen den Unternehmen immer härter ausgetragen. Dies betrifft alle Sektoren der kapitalistischen Weltwirtschaft. So beherrschen heute beispielsweise nur noch 13 Automobilkonzerne den Weltmarkt in ihrem Segment (Jungle World, 15/05).

Der Lebensmitteleinzelhandel ist ebenfalls eine der Branchen, in welchen der Konzentrationsprozess weit fortgeschritten ist. So setzten etwa im vergangenen Jahr die zehn größten Händler mehr als 86 Prozent der in Deutschland verkauften Lebensmittel um. Und die Konzentration nimmt immer weiter zu: Ende April verkündete der Konzern Edeka die Übernahme des seit einiger Zeit schwächelnden Konkurrenten Spar und dessen Billigsupermarktkette Netto. Damit wird das Unternehmen zum Marktführer auf diesem hart umkämpften Segment.

Und der Kampf wird in kaum einem Land so heftig ausgefochten wie in Deutschland. Nach Angaben der FAZ liegen die Umsatzrenditen im Lebensmitteleinzelhandel in England zwischen drei und vier Prozent, in Frankreich zwischen 1,5 und 2,5 Prozent, während in Deutschland weniger als ein Prozent des Umsatzes als Nettogewinn übrig bleibt.

Aus diesem Grund meiden die meisten ausländischen Handelskonzerne den deutschen Markt oder, wenn sie sich doch in die Konkurrenz mit deutschen Unternehmen begeben, schaffen sie es kaum, relevante Marktanteile zu erobern. Der Verkauf der Spar- und Netto-Märkte bestätigt diesen Trend. Bisher gehörten diese Marken dem französischen Unternehmen Intermarche. Und selbst der Weltmarktführer Wal-Mart kämpft seit der Übernahme der ehemaligen Wertkauf-Filialen um Umsatz und Ertrag.

Geführt wird dieser Konkurrenzkampf vor allem mit einer aggressiven Preispolitik, weshalb in erster Linie die Discounter die Gewinner der Auseinandersetzung sind. In den vergangenen Jahren ist es ihnen so gelungen, 42 Prozent des Lebensmittelhandels unter sich aufzuteilen.

Diese Tendenz korrespondiert mit einer gesellschaftlichen Entwicklung, die, wie es kürzlich sogar der regierungsamtliche Armuts- und Reichtumsbericht bestätigte, große Teile der Bevölkerung in die Armut treibt. Die Verarmten sind dann wiederum geradezu gezwungen, bei den Discountern einzukaufen.

Die fortschreitende Konzentration des Handels führt außerdem zu einer Stärkung der Konzerne, die es infolgedessen in ihren Verhandlungen mit den Produzenten leichter haben. Denn wenn diese es nicht schaffen, ihre Produkte in die Regale der Branchenführer zu bekommen, besteht kaum Aussicht darauf, die Waren in großer Stückzahl loszuwerden. Und logischerweise nutzen die Handelskonzerne diesen Verhandlungsvorteil, indem sie den Produzenten die Preise diktieren.

Gegen diese Praktiken des Handels protestieren vor allem die Milchbauern immer wieder, indem sie Zufahrten von Lagerstätten blockieren oder ihre Milch wegschütten. Der stellvertretende Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes (DBV), Adalbert Kienle, demonstriert Selbstbewusstsein und prophezeit: »Die Bauern sind bereit zu kämpfen!« Sein Verband organisierte deshalb Anfang April einen Aktionstag in Deutschland, an dem Tausende Bauern vor 70 Filialen der Supermarktkette Real protestierten.

Das Unternehmen veranstaltete an diesem Tag zu Reklamezwecken einen so genannten »Größenwahn-Samstag mit Wahnsinnsangeboten« und verkaufte einen Liter Vollmilch für 33 Cent, während die Produktionskosten der Bauern zwischen 29 und 36 Cent pro Liter liegen. Eine Folge dieser Preispolitik ist, dass immer mehr Landwirte ihre Höfe aufgeben müssen, wodurch wiederum auch der Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft zunimmt. Ihren Höhepunkt erreichten die Proteste der Bauern am 4. Mai in Elsterwerda in Brandenburg, als die Polizei eine Blockade der Campina-Milchwerke mit Gewalt auflöste.

Doch die Aktionen stoßen auch auf Kritik. So bemängelt etwa die anarchosyndikalistische Freie ArbeiterInnen Union (FAU) in ihrem Organ Direkte Aktion unter der Überschrift »Falscher Schritt in die richtige Richtung«, dass die Veranstalter des Aktionstages nur die Stellvertreterpolitik der bürgerlichen Gewerkschaften reproduzierten, da sie weder mit den Mitarbeitern gesprochen hätten, geschweige denn von ihnen um Unterstützung gebeten worden seien. Außerdem lasse sich die Kampagne zum »militanten Arm von Verdi« machen. Das Ziel des Schwarzbuches sei nämlich nicht die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel, sondern nur der Versuch, Verdi in der bisher nahezu gewerkschaftsfreien Zone Lidl zum einzig legitimen Vertreter der Angestellten zu machen.

Die Organisatoren der Kampagne zeigten sich bislang resistent gegenüber der Kritik, in einem Diskussionsbeitrag im Autonomenblatt Interim antworteten sie auf den Vorwurf, Verdis militanter Arm zu sein, mit den Worten: »Wenn ja, was wäre denn daran so schlecht?«

Verdi hat kürzlich mit der Veröffentlichung einer Broschüre mit dem Titel Schwarzmarkt nachgelegt. In ihr ist zwar von großer Resonanz auf das »Schwarzbuch Lidl« die Rede. Der darin enthaltene »Schnellkurs Filialbesuche« – mit Tipps wie: »Einer der wichtigsten Grundsätze lautet, Vertrauen bei den Verkäuferinnen und der Filialleitung zu wecken« – deutet aber darauf hin, dass von einer Selbstorganisation der Beschäftigten noch keine Rede sein kann.