Rote Erde, tote Erde

Die Geschichte der Sozialdemokratie in Nordrhein-Westfalen war in den vergangenen Jahren die eines unaufhaltsamen Niedergangs. von georg fülberth

Oft wird Nordrhein-Westfalen als das Stammland der Sozialdemokratie bezeichnet. Das ist eine Legende. Vor 1933 hatte die SPD in diesem Landstrich, der damals noch gar nicht Nordrhein-Westfalen hieß, sondern zu Preußen gehörte, nicht viel zu bestellen. In den Großstädten war sie oft schwächer als die Zentrumspartei und die KPD, und auf dem platten Land ging es ihr noch schlechter. Die Bergarbeiter waren meist katholisch, oft kamen sie aus Polen.

Nach 1945 wurde das Bundesland zunächst christlich regiert. Anerkannter Landesvater war der gelernte Schuhmacher Karl Arnold vom Gewerkschaftsflügel der CDU. Er wäre 1949 wohl Bundeskanzler einer von ihm befürworteten Großen Koalition mit der SPD geworden, hätte sich nicht sein innerparteilicher Gegenspieler Konrad Adenauer mit seinem Konzept eines Bürgerblocks durchgesetzt.

1956 wurde Arnold als Ministerpräsident gestürzt. Die Sozialdemokraten und die FDP bildeten in Düsseldorf die erste sozialliberale Koalition unter dem ehemaligen Bergarbeiter Fritz Steinhoff (SPD). Aber das blieb eine Episode. 1958 gewann Arnold, der sehr beliebt war, die absolute Mehrheit.

Die Kohle-Krise von 1960 wurde gemeistert. Es herrschte Vollbeschäftigung, und die entlassenen Bergarbeiter fanden leicht andere Jobs. Der Preis für die Kohle wurde an den des Erdöls gebunden, damals begann ihre Subventionierung. Bundeskanzler Adenauer hatte ein großes Interesse daran, dass Nordrhein-Westfalen schwarz blieb. In ähnlicher Weise wurde später die zeitweise schwächelnde Stahlindustrie gestützt.

Unter Arnolds Nachfolger Franz Meyers machte sich die CDU sogar daran, einen Strukturwandel einzuleiten. Universitäten wurden damals bereits gegründet, nicht erst von der SPD. Neue Infrastruktur sollte Lücken füllen, die durch den Niedergang der Montanindustrie entstanden.

Der parteipolitische Umschwung in Nordrhein-Westfalen kam 1966. Nachdem die Sozialdemokratie mit der CDU in Bonn eine große Koalition gebildet hatte, bildete sie in Düsseldorf – auch aus demagogischen Gründen – ein Kabinett mit der FDP. Der neue Ministerpräsident, Heinz Kühn (SPD), der bald eine ähnlich dominante Stellung in dem Bundesland einnahm wie vor ihm Karl Arnold, kam ursprünglich gar nicht aus der SPD. Bis 1933 war er im linken Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) gewesen, danach musste er emigrieren. Sein Kabinett war der Vorläufer der späteren Bundesregierung, der sozialliberalen Koalition von 1969.

Die Regierungen in Düsseldorf und Bonn trugen das sozialliberale Modell in Nordrhein-Westfalen und in der Bundesrepublik Deutschland während ihrer besten Jahre.

Damit war es 1978 vorbei. Kühn trat aus Altersgründen zurück, ihm folgte ein Epigone: Johannes Rau. Auch er war ursprünglich kein Sozialdemokrat, sondern gehörte zunächst der Gesamtdeutschen Volkspartei von Gustav Heinemann an, der der erste sozialdemokratische Bundespräsident werden sollte und in dessen Familie er später einheiraten sollte. Auch mit dem Ruhrbergbau hatte er nichts zu tun, er kam aus dem Wuppertaler Predigermilieu. Als Wissenschaftsminister in Kühns Kabinett fiel er auch schon mal mit dem einen oder anderen üblen Berufsverbot auf. Ihm war das Kunststück gelungen, in einem sozialdemokratisch regierten Bundesland mit seinen vielen neuen Universitäten die konservative Struktur an den Hochschulen, die anderweitig kräftig durchgerüttelt worden war, über die Runden zu bringen.

Johannes Rau gab einerseits den leutseligen Serenissimus, andererseits stützte er sich auf den rechten Flügel der SPD. Großen Wert legte er auf Einvernehmen mit der IG Bergbau, Chemie und Energie (IG BCE) und auf Braunkohle- und Atomkraftwerke. Als Anfang der achtziger Jahre die Friedensbewegung mit dem »Krefelder Appell« gegen die Raketenrüstung protestierte, wurde die Ruhrgemeinde Datteln berühmt: Ein »Dattelner Appell« unterstützte die Politik der Nato. Angezettelt wurde er von Horst Niggemeier, einem Funktionär der IG BCE und der SPD. Auch das gehörte zu Raus Milieu, dessen frommer Augenaufschlag andererseits dazu einlud, über derlei hinwegzusehen. Strukturreformen wurden zugleich proklamiert und verschlafen, denn noch gab es Subventionen aus Bonn. Nordrhein-Westfalen verlor seine wirtschaftlich führende Stellung an Baden-Württemberg, Bayern und Hessen.

Rau gewann zweimal die absolute Mehrheit im Landtag. 1980 flog die FDP raus, 1985 kamen die Grünen nicht rein. Jetzt erst entstand der Mythos, Nordrhein-Westfalen sei von altersher und immerdar rote Erde. Die Realität war jedoch eher die, dass sich ein sozialdemokratisches Parteibeamtentum in den Gemeinden und auf Landesebene ausbreitete. Gewiss: Auch das ist eine Massenbasis.

1990 war der Spaß vorbei. Mit der Wiedervereinigung meldeten sich in der ehemaligen DDR neue Subventionsanwärter. Rau verlor seine absolute Mehrheit. Er sträubte sich gegen eine rot-grüne Koalition, musste aber einwilligen, sonst hätte er sein Amt abgeben müssen. Aber das machte ihm jetzt nicht mehr so viel Spaß. Im Kabinett störte ihn die Anwesenheit der Grünen Bärbel Höhn, die unverkennbar intelligenter war als er selbst und seine anderen Minister zusammen. Also sah er sich nach einem Amt um, in dem das, was er wirklich konnte, noch gebraucht wurde: moderieren und predigen. Im zweiten Anlauf wurde er schließlich 1999 Bundespräsident.

Auf den Epigonen folgte der Abdecker: Wolfgang Clement. Er kam aus dem Axel-Springer-Konzern und hatte sich, bis er schließlich unter Rau Minister geworden war, durch Joggen fit gehalten. Irgendwann musste der Chefposten ja frei werden.

Allerdings hatte Clement von Anfang an Pech. Bei den Kommunalwahlen 1999 kam es zu Verlusten für die SPD. In Köln und anderswo wurden Skandale von den Wählern evaluiert. Außerdem wirkte sich der Abwärtstrend der Bundespartei aus. Als sie sich wieder erholt hatte, wurde Clement ein hoher Sieg bei der Landtagswahl 2000 vorhergesagt, der aber dann knapper ausfiel als erhofft. Die schreckliche Kabinettskollegin Höhn wurde auch er nicht los.

So entwickelte er schon nach kurzer Zeit Rau’schen Fluchtimpuls. 2002 wurde er Wirtschaftsminister in Berlin. Zwar durfte er sich nun als »Superminister« bezeichnen lassen, er war aber nur ein weiterer Pressesprecher des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Dass der Regierungschef des bevölkerungsreichsten Bundeslandes sich mit diesem Posten zufrieden gab, sagt viel darüber aus, was aus Nordrhein-Westfalen inzwischen geworden ist.

Clement war in Nordrhein-Westfalen immer im Doppelpack mit Franz Müntefering aufgetreten. Auch sein Nachfolger, Peer Steinbrück, brachte seinen Schatten mit: Harald Schartau. Solche Konstellationen ergeben sich, wenn entweder die Macht noch nicht klar verteilt ist oder die Verantwortung für eine künftige Niederlage hin und her geschoben werden soll.

Die Demoskopen sagen einen Sieg von CDU und FDP voraus. Das wollen wir aber nicht hoffen. Der Kandidat der CDU, Jürgen Rüttgers, forderte vor fünf Jahren »Kinder statt Inder« und hat sich inzwischen nicht gebessert. Jetzt will er, dass die Leute mehr arbeiten fürs gleiche Geld. Daran sehen wir, dass nichts Besseres nachkommt.