Pokal der Pokallosen

Zum 50. Geburtstag des Fußball-Europacups erscheint ein Buch, in dem Geschichten rund um den Pott gesammelt sind. von rené martens

Anekdoten, in denen eine Toilette vorkommt, sind nicht immer komisch, aber die, die Ulrich Hesse-Lichtenberger neulich gehört hat, ist es auf alle Fälle. Der Buchautor hatte Besuch von einem Journalisten aus Göteborg, und dieser erzählte ihm, was 1982 vor dem Uefa-Cupfinale des IFK Göteborg gegen den Hamburger SV passiert war: Ausgerechnet vor diesem bedeutsamen Spiel saß ein Göteborger Kicker auf dem WC fest, aus irgendeinem Grund funktionierte das Türschloss nicht. Beim Warmlaufen war Trainer Sven-Göran Eriksson, der heutige englische Nationalcoach, irritiert, weil er den Spieler nicht finden konnte, weshalb er schon begann, die Mannschaft umzustellen. Doch dann tauchte der Unglücksrabe noch auf – nachdem er es geschafft hatte, sich durch das Toilettenfenster zu befreien.

Trotz dieser Nerven aufreibenden Episode gewannen die Schweden. Das Dumme an dieser Geschichte ist nur, dass Hesse-Lichtenberger sie nicht mehr in seinem Buch »Flutlicht & Schatten. Die Geschichte des Europapokals« unterbringen konnte, denn das war längst fertiggestellt. Kuriose und gleichermaßen aufschlussreiche Episoden rund um große und weniger große Spiele des europäischen Fußballs gibt es darin dennoch reichlich.

Der Anlass für die Veröffentlichung ist ein rundes Jubiläum. Der Europacup, dessen aktuelle Wettbewerbe dieser Tage entschieden werden, wird 50 – die ersten Spiele im Uefa-Cup fanden im Juni 1955 statt, der Meistercup begann zwei Monate später.

Manche Begebenheiten der Europacup-Historie sind nie außerhalb der jeweiligen Staatsgrenzen bekannt geworden – vor allem, wenn sie sich rund um osteuropäische Klubs ereigneten, denn Zeitungen aus deren Ländern können die wenigsten westliche Journalisten lesen. Aus demselben Grund entstanden möglicherweise auch seltsame Überlieferungen. Ein Beispiel ist die Geschichte des Torwarts Helmut Duckadam, der für Steaua Bukarest spielte. Er ging 1986 in die Fußballgeschichte ein, weil er im Elfmeterschießen des Landesmeisterfinales gegen den FC Barcelona gleich vier Elfmeter hielt. Ein paar Monate später musste er seine Karriere wegen einer schweren Arterienerkrankung am Arm beenden. Die Bild-Zeitung strickte daraus die Legende, Duckadam habe nicht mehr spielen können, nachdem ihm der rumänische Geheimdienst Securitate beide Arme gebrochen habe, um die Herausgabe eines Mercedes zu erzwingen, den er nach dem Endspiel von der Uefa bekommen haben soll.

Bis heute nicht vollständig geklärt ist dagegen, was am 20. Oktober 1982 im Luzhniki-Stadion in Moskau beim Spiel zwischen Spartak und dem FC Haarlem geschah. Fest steht nur, dass während eines Gedränges auf einer überbesetzten Tribüne Panik ausbrach und daraus eine Katastrophe resultierte, weil Ausgänge verschlossen waren und die Polizei, vorsichtig formuliert, überfordert wirkte. Offiziell starben 66 Menschen, die St. Petersburg Times dagegen schrieb vor einigen Jahren, man könne von fast 360 Toten ausgehen. Die wenigen vorhandenen Informationen lassen die Frage offen, ob spätere Stadionkatastrophen (wie in Bradford, Heysel, Hillsborough) hätten verhindert werden können, wären Details über die Tragödie von Moskau bekannt gewesen.

Wer ein Buch zur Geschichte des Europacups schreibt, kommt selbstverständlich nicht umhin, die Politik der Funktionäre zu kritisieren, die die Geschicke dieser Wettbewerbe bestimmen. Hesse-Lichtenberger tut dies ausführlich, vor allem, wenn es um die Folgen des Champions-League-Systems geht. »Ein Klub wie der FC Porto kann es sich leisten, nur zwei oder drei Jahre international gut dazustehen, um dann ein neues Team aufzubauen, während für die Manchesters, Mailands und Madrids eine Saison abseits des Scheinwerferlichts eine Katastrophe darstellt«, schreibt er. Das zwinge die Klubs »zu immer höheren finanziellen Risiken«, um in der folgenden Saison wieder die Interessen der TV-Sender, Werbepartner oder Aktionäre zu befriedigen.

Hesse-Lichtenberger übt auch Kritik an manchen Kritikern. »Ich bürste gern gegen den Strich«, erläutert er. Das bezieht sich auf Fans, die die im Sinne einer so genannten Kommerzialisierung durchgesetzten Reformen als relativ neue Phänomene sehen. »Flutlicht & Schatten« zeigt anhand des Europacups, dass die Fußballwelt immer im Fluss war, und es die Zeiten, in denen nicht das Geld regierte, nie gegeben hat; verschiedene Interessengruppe haben stets Einfluss auf den Fußball genommen, oft genug auf aktionistische und populistische Weise.

So erinnert Hesse-Lichtenberger daran, dass die europäischen Verbände den Cup der Landesmeister zunächst ablehnten. Lange vor der Gründung der so genannten G 14, eines Zusammenschlusses mächtiger europäischer Klubs, hätten »die großen Vereine den Verlauf der Ereignisse bestimmt«. Die Idee des Meistercups, 1954 von einem Redakteur der Zeitung L’Equipe entwickelt, trieb beispielsweise die großen Klubs voran, insbesondere Real Madrid. Und Manchester United riskierte 1956 einen Konflikt mit dem englischen Ligaverband, als sich der Klub für den Europacup der Landesmeister meldete, was der FC Chelsea ein Jahr zuvor nicht getan hatte.

Welche Verwirrung die Entscheidung von Manchester auslöste, zeigt ein Statement des damaligen Klubmanagers, des berühmten Matt Busby: »Einige nannten mich einen Visionär, andere einen Reaktionär, wieder andere hielten mich für einfach seltsam.«

Ziemlich seltsam mutete die Fußballwelt seinerzeit auch den Zürcher Sport an: »Die Fußballer des Landes würden gut daran tun, sich nicht von Konjunkturrittern in einen unerträglichen Betrieb einschalten zu lassen. Denn es ist doch ganz natürlich, dass ein Projekt das andere rufen wird (…). Zuletzt wird Sport das Patronat übernehmen, um den ›Cupsieger-Cup‹ auszutragen. Danach schließlich werden wir uns verpflichten, eingedenk der ›Kleinen‹ einen ›Cup der Cuplosen‹ einzuführen«, schrieb das Fachblatt 1955.

Der sarkastische Sport-Autor konnte nicht ahnen, dass er sich als Prophet erweisen sollte, denn fünf Jahre später wurde tatsächlich der Europacup der Pokalsieger eingeführt und sieben Jahre danach eine Art Europacup der Cuplosen, nämlich die Intertoto-Runde, die seit 1995 als UI-Cup firmiert.

Der Ärger heutiger Kritiker gilt oftmals den Änderungen der Regeln und des Spielmodus, die wie hilflose Versuche der Funktionäre wirken, auf das zu reagieren, was man gerade für die aktuellen Erfordernisse des Marktes hält. Ihre Vorgänger hielten es aber nicht anders, Hesse-Lichtenberger spricht sogar von einer »sehr alten Tradition, dass keine Regel im Europacup so jung ist, als dass man sie nicht rasch wieder ändern« könne.

Dass bei Gleichstand nach zwei Spielen die Auswärtstore doppelt zählen – ausgedacht hat sich das im Übrigen der langjährige Schweizer Uefa-Funktionär Hans Bangerter – , gilt heute zum Beispiel als ehernes Gesetz. Tatsächlich probierte man ab 1965 allerlei Varianten aus: Zunächst galt die Regel nur im Pokalsiegercup, nach drei Jahren dann endlich in allen Wettbewerben – ohne dass allerdings von Einheitlichkeit die Rede sein konnte, denn mal galt die Regelung für alle Spiele, mal nur bis zum Viertelfinale, mal nicht für Tore in der Verlängerung. Das verwirrte teilweise auch die Schiedsrichter. Erst 1971 fand der Verband eine Version der Regel, die der heutigen ähnelt.

Was die Zukunft der europäischen Wettbewerbe betrifft, hält Hesse-Lichtenberger den Uefa-Cup für die wichtigste Baustelle. Sein »Siechtum« sei vergleichbar mit der Entwicklung des Europapokals der Pokalsieger, den die Uefa 1999 abschaffte, nachdem sie ihn durch die Reform der Champions League systematisch entwertet hatte. Wenn der FC Parma in der entscheidenden Phase des Uefa-Cups mit »einer halben Ersatzmannschaft« antrete, weil ihm der Kampf um den Klassenerhalt in der Serie A wichtiger sei, müsse sich der europäische Verband »etwas einfallen lassen«. Dieser Bedeutungsverlust weckt kurioserweise Erinnerungen an den Status, den der Wettbewerb in der Anfangsphase hatte. 1968/69 etwa erreichte der Bundesligist Hamburger SV, der rund anderthalb Jahrzehnte später nicht vom Toilettendilemma des IFK Göteborg profitieren konnte, das Viertelfinale, nur um dort dann Göztepe Izmir kampflos das Feld zu überlassen. Die Begründung der Norddeutschen lautete damals: Es gebe Terminschwierigkeiten in der nationalen Meisterschaft.

Ulrich Hesse-Lichtenberger: Flutlicht & Schatten. Die Geschichte des Europapokals. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2005, 480 Seiten, 24,90 Euro