Tanz den Helmut Kohl!

Die CDU/CSU hat zahlreiche Affären und Misserfolge hinter sich und ihre Politik ist unpopulär. Trotzdem dürfte sie die nächste Bundestagswahl gewinnen. von peter bierl

Erinnert sich noch jemand an Kanzler Helmut Kohl? Das war der Mann mit der Strickweste, der in St. Anton am Wolfgangsee in Österreich Urlaub machte und am liebsten Pfälzer Saumägen verspeiste. Sozialdemokratische Oberstudienräte, liberale Intellektuelle und Leser des Spiegel verspotteten ihn dünkelhaft als »Birne«, ohne zu bedenken, dass einer, der so weit nach oben kommt und sich so lange dort halten kann, etwas auf dem Kasten haben muss.

Der Koloss regierte immerhin 16 Jahre lang, von 1982 bis 1998, länger als Konrad Adenauer. Die Kohl-Ära ließe sich in Stichworten wie folgt zusammenfassen: geistig-moralische Wende, Flick-Spendenaffäre, Bitburg, Gnade der späten Geburt, Fußballweltmeisterschaft 1990, Mantel der Geschichte, blühende Landschaften, erste Rentenreform, erste Gesundheitsreform. Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP) musste wegen einer Affäre um Einkaufswagenchips zurücktreten, die Justiz in Augsburg begann, sich mit diversen Waffenschiebereien zu beschäftigen, in die der Sohn von Franz-Josef Strauß, Max Strauß, und der Rüstungsstaatssekretär Holger Pfahls (CSU) verwickelt waren.

Die Regierung Kohl rettete am Ende kein höheres Wesen, kein Berti Vogts, keine Flut und auch kein US-Präsident mehr. Wenige Wochen vor der Bundestagswahl im September 1998 stritten die CDU und die FDP schon, ob Helmut Kohl im Fall eines Wahlsieges nicht bald sein Amt an den damaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble abgeben sollte. Der »Laufbursche von VW« (Jürgen Trittin über Gerhard Schröder) war zum Wunschkandidaten des Kapitals avanciert, die Medien produzierten im Wahlvolk eine Stimmung, die den Überdruss an Kohl in den Vordergrund rückte, und so durften Gerhard Schröder und Joschka Fischer gewinnen. Die Regierung aus CDU, CSU und FDP hinterließ die höchste Arbeitslosenquote, offiziell schon über vier Millionen, und die höchste Staatsverschuldung, die bis dahin in der Geschichte der Bundesrepublik verzeichnet worden waren. Kohl stürzte wenig später als Parteivorsitzender über eine weitere Spendenaffäre, im Februar 2000 kostete eine weitere Zuwendung des Rüstungslobbyisten Karlheinz Schreiber (CSU) an die Partei seinen Nachfolger Wolfgang Schäuble das Amt. Der hessische CDU-Schatzmeister Casimir Prinz zu Sayn-Wittgenstein erklärte, die illegalen Spenden an den Landesverband stammten aus den Vermächtnissen deutschstämmiger jüdischer Emigranten. Angela Merkel machte das Rennen und wurde Parteivorsitzende, belächelt und bekrittelt von der Konkurrenz in den eigenen Reihen.

Schwer gebeutelt wurden die Konservativen also auch nach dem Regierungswechsel, aber sie waren keineswegs erfolglos, sondern gewannen Landtagswahlen in Serie. Nach den Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen hat sich die Situation in den Ländern und im Bundesrat fast umgekehrt: 1998 kontrollierte die SPD mit diversen Koalitionspartnern zwölf von 16 Bundesländern. Heute dominiert die CDU/CSU in neun Bundesländern, die SPD bloß noch in dreien. In vier Ländern regieren CDU und SPD gemeinsam in einer großen Koalition.

Dieser Siegeszug zeigt sich auch in aktuellen Umfragen, die der CDU/CSU einen Stimmenanteil von 45 Prozent zuweisen. Die Unionsparteien liegen vorne, und sollte tatsächlich im Herbst der Bundestag gewählt werden, dürfen sie damit rechnen zu gewinnen. Das ist umso erstaunlicher, als die Parteigrößen in den vergangenen Jahren über Posten und Pöstchen und über Steuer- oder Gesundheitspolitik gestritten haben. Die Affären aus den neunziger Jahren sind keineswegs ausgestanden. Im April wurde Manfred Kanther, ehemaliger Innenminister Kohls, im Zusammenhang mit der Parteispendenaffäre der hessischen CDU zu einer Haftstrafe auf Bewährung und einer Geldstrafe von 25 000 Euro verurteilt. Und der ehemalige Rüstungsstaatssekretär Pfahls hat vor einigen Wochen ein Teilgeständnis über die Waffengeschäfte und Bestechungen der Ära Kohl abgelegt.

Die alten Geschichten regen kaum noch jemanden auf und dürften darum die Union im Wahlkampf nicht belasten. Die Stärke der CDU ist auf den ersten Blick dennoch erstaunlich. Die Partei ist zerstritten, und wenn sie eindeutige Positionen bezieht, sind sie nicht ohne weiteres populär in der großen Masse der Bevölkerung. So beabsichtigt sie beispielsweise, den Kündigungsschutz weiter zu demontieren und eine Kopfpauschale im Gesundheitswesen einzuführen. Merkel hat angekündigt, als Kanzlerin die Atomkraftwerke noch länger in Betrieb zu lassen, als Rot-Grün den Stromkonzernen schon zugestanden hat. Als der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU) in der vergangenen Woche vorschlug, im Fall eines Wahlsieges die Mehrwertsteuer zu erhöhen, erhielt er heftigen Widerspruch aus seiner eigenen Partei, weil das Wähler verprellen könnte. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU), vormals Kanzlerkandidat der Unionsparteien, zögert, ob er im Herbst wirklich nach Berlin umziehen soll. Besser in München der Erste als in Berlin der Zweite, mag er sich denken. Vermutlich findet er es aber überdies wenig ersprießlich, künftig den Wirtschaftsminister zu spielen und jeden Monat steigende Arbeitslosenzahlen zu kommentieren.

Der Wiederaufstieg der CDU ist ein Beleg für die Vorzüge von bürgerlich-parlamentarischen gegenüber autoritären Systemen. Das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition lenkt den Unmut auf die jeweils regierenden Parteien und ihre Führung. Das parlamentarische System kanalisiert politische Energie. Hätte es die Grünen nicht gegeben, hätte man sie erfinden müssen, um die sozialen Protestbewegungen der siebziger Jahre zu integrieren. Das »Schattenboxen« im Parlament und um Mehrheiten verkürzt den Herrschaftskonflikt auf einen Führungskonflikt, schrieb Johannes Agnoli 1968 in seinem berühmten Werk mit dem Titel: »Die Transformation der Demokratie«.

Er sprach von der pluralen Fassung einer Einheitspartei, weil sich Programme und Ziele ähneln. Systemwidrig wäre es allerdings, wenn sich die Opposition offensichtlich mit der Regierung identifiziert. Insofern ist die Feststellung von Marx, der Staat sei so etwas wie der politische Ausschuss des Kapitals, fortzuschreiben. Es ist zweckmäßiger im Sinne der Herrschaft, wenn jeweils ein Teil des leitenden politischen Personals regiert und der andere sich in der Opposition regeneriert.

Parteien in der Opposition gewinnen mit allerlei ideologischem Gedöns Stammwähler zurück, die sie als Regierungspartei vergrault haben. Insofern hat Franz Müntefering, der Parteivorsitzende der SPD, mit seiner Heuschrecken-Kampagne schon den Oppositionskurs eingeschlagen. Die Stunde der Opposition schlägt dann, wenn ein ausreichend großer Teil der Wechselwähler die Grausamkeiten, die sie in ihrer letzten Regierungsphase beging, vergessen hat.

Die soziale Demontage leitete die SPD/FDP-Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt ein, die Regierung Kohl setzte den Kurs fort, Rot-Grün verschärfte die Gangart. Eine künftige, von der CDU geführte Bundesregierung wird das Tempo wohl noch einmal erhöhen, nur dürften die sozialen Grausamkeiten einen anderen Namen tragen als »Hartz V« oder »Hartz VI«. Etwas Besseres kommt eben nicht nach.