Toter Libanese beliebter als roter

Im Libanon hat ein langer Wahlprozess begonnen. Der größte Teil der Ergebnisse steht bereits vorher fest. Auch sonst scheint sich durch den Abzug der Syrer nicht viel zu ändern. von alfred hackensberger, beirut

Bis spät in die Nacht fuhren am vergangenen Wochenende Autokorsos mit Fahnen und Musik durch Beirut. Fast hätte man meinen können, nicht Liverpool, sondern ein libanesischer Club hätte die Champions League gewonnen. Doch bejubelt wurde der Sieg von Saad Hariri und seiner »Rafik-Hariri-Märtyrer-Liste« – und das schon einige Tage vor dem Beginn der Parlamentswahlen am Sonntag. So verfrüht, wie man annehmen könnte, waren die Feiern nicht. Schließlich stand ein großer Teil der Ergebnisse fest, noch ehe das erste Kreuz gemacht wurde.

Der Sohn des im Februar ermordeten früheren Premierministers Rafik Hariri wird wohl dessen Amt übernehmen. Aus Mangel an Gegenkandidaten waren der »Märtyrer-Liste« neun der insgesamt 19 Mandate sicher, die im Wahlkreis Beirut zu vergeben sind. Dass sie auch die restlichen zehn einfährt, dürfte reine Formsache sein.

Diese Liste ist keine Partei, sondern ein zweckorientiertes Wahlbündnis, das für den Libanon typisch ist. Entsprechend dem Abkommen von Taif aus dem Jahr 1989, werden die 128 Parlamentssitze jeweils zur Hälfte an Christen und Moslems, zu denen auch die Drusen gehören, vergeben. Die jeweils 64 Sitze sind zudem penibel nach den Konfessionen unterteilt. So lautet die Verteilung für die christlichen Mandate: 34 für die Maroniten, 14 für die Griechisch-Orthodoxen, acht für die griechischen Katholiken, fünf für die armenischen Orthodoxen und jeweils einen für armenische Katholiken, Protestanten und andere Minderheiten.

Zwar sollten derlei Regelungen helfen, nach dem Bürgerkrieg die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen abzubauen. Andererseits verdeutlicht dieser Proporz nicht nur, welch groteske Sache Wahlen in diesem Land sind, sondern zeigt auch, dass dieses System die konfessionelle Trennung der Gesellschaft fortschreibt, anstatt sie zu überwinden.

Um eine Chance auf diese konfessionsgebundenen Parlamentssitze zu haben, muss man sich einer mächtigen und populären Liste anschließen, die alle Religionen umfasst. Unabhängige Listen, wie sie die Kommunisten und die »Neuen Linken Bewegungen« bilden, haben kaum Aussichten auf Erfolg. Bei den meist sehr widersprüchlichen Allianzen spielen politische Programme, Ideologien und Meinungen eine untergeordnete Rolle.

Unter den Kandidaten der »Märtyrer-Liste« befinden sich Vertreter der drusischen Progressiven Sozialistischen Partei Walid Jumblatts oder auch der bislang verbotenen rechten Lebanese Force, deren Führer Samir Geaga seit elf Jahren wegen Kriegsverbrechen im Gefängnis sitzt. Außerdem kandidiert dort ein Vertreter der Hisbollah sowie Solange Gemayel, die Witwe des 1982 ermordeten Präsidenten Bashir Gemayel, mit der sich ihr Listenkollege von der Hisbollah nicht fotografieren ließ. Sie ist für das maronitische Mandat vorgesehen und eine der drei Frauen, die über die Beiruter »Märytrer-Liste« ins Parlament einziehen werden. Die vierte weibliche Abgeordnete wird Frau Bahia Hariri sein, die »Schwester des Märtyrers«, deren Mandat im Südlibanon ebenfalls schon sicher ist. »Vier Frauen im Parlament sind viel zu wenig«, sagt Sana Solh von der libanesischen Frauenorganisation. Trotz allen Proporzes gibt es selbstverständlich keine Frauenquote.

In den vergangenen Wochen wurde viel über eine Reform des Wahlrechts diskutiert. Insbesondere die Maroniten, die größte christliche Bevölkerungsgruppe, fühlt sich durch die großen Wahlkreise benachteiligt. Nur 15 der 64 christlichen Mandate würden von einer christlichen Wählerschaft bestimmt, die restlichen 49 seien von muslimischen Stimmen abhängig.

»Das Wahlgesetz ist ungerecht«, meint der maronitische Kardinal Nasrallah Sfeir. Michel Aoun, der Führer der Freien Patriotischen Bewegung, der vor kurzem nach 15 Jahren Exil aus Frankreich zurückgekehrt ist, nennt das Wahlrecht »eine legale Fälschung, die keine Erneuerung des demokratischen Lebens« bringe.

Das sehen die Parteien und Gruppen des antisyrischen Oppositionsbündnisses ähnlich. Zumindest galt dies bis kurz vor den Wahlen. Dann erklärte plötzlich der Drusenführer Walid Jumblatt, dass er mit dem Reglement zufrieden sei. Ebenso Saad Hariri, der nach dem Tod seines Vaters Rafik zum einflussreichsten Mann des Landes aufgestiegen ist. Ein Bündnis aller oppositionellen Parteien hat sich damit erledigt.

Nach dem ersten Wahlgang in Beirut wird an den nachfolgenden Sonntagen im Süden und Norden, im Mount Lebanon und schließlich im Bekaa-Distrikt gewählt. Insgesamt sind zwei bis drei Millionen Libanesen über 21 Jahre stimmberechtigt. Genaue Zahlen gibt es nicht, die letzte Volkszählung liegt Jahrzehnte zurück. Wer im Libanon wählen will, muss sich erst bei der zuständigen Gemeinde registrieren lassen.

Zu den Wahlen ist eine hundertköpfige Kommission der EU angereist, die »eine detaillierte Analyse des Wahlprozesses« erstellen und das »Vertrauen der libanesischen Stimmbürger in die Wahlen« stärken will. Viel wird es nicht zu analysieren geben. Die Sitzvergabe ist den Religionen und Konfessionen entsprechend exakt vorgeschrieben.

Ein Sieg der Oppositionsparteien gilt als sicher, nachdem die meisten prosyrischen Politiker, wie etwa der ehemalige Premierminister Omar Karami, auf eine erneute Kandidatur verzichtet haben. Nach dem Sieg von Saad Hariri und seiner »Märtyrer-Liste« in Beirut wird es auch in den nächsten beiden Wahlgängen keine großen Überraschungen geben. Im Süden mit einer schiitischen Bevölkerungsmehrheit ist der Triumph des Bündnisses von Hisbollah und Amal gewiss, ebenso im Bekaa-Tal.

Einzig in den Distrikten Mount Lebanon und Nordlibanon ist noch unklar, wie viele der christlichen Sitze auf die Liste Michel Aouns entfallen werden. Der ehemalige General hat mit nahezu allen Gruppierungen Gespräche geführt, aber alle scheiterten daran, dass niemand ihm so viele Mandate geben wollte, wie er verlangt. Zuletzt hat er auch mit Jumblatt verhandelt, da der Mount Lebanon eine drusische Bastion ist. Aber auch er wollte dem ehemaligen General keine 14 Parlamentssitze versprechen.

Aouns Freie Patriotische Bewegung ist nun mit Talal Arslan alliert, dem direkten drusischen Gegner Jumblatts. Im Norden ist ein Bündnis mit der Liberalen Nationalen Partei von Dory Chamoun geplant. Beide sind prosyrische Politiker. Für Aoun, der nach dem Ende des Bürgerkriegs von den Syrern verbannt wurde, spielt das offenbar keine Rolle. »Auch Jumblatt war lange Zeit ein Freund Syriens«, sagt er. »Wie die gesamte politische Szene des Libanons irgendwann einmal auf der Seite Syriens stand.«

Der EU-Kommission wird es nicht leicht fallen, das »Vertrauen in die Wahlen« zu stärken. Es wird nicht erwartet, dass viel mehr als nur jeder zweiter Libanese sich an den Wahlen beteiligt. Besonders viele junge Menschen sind bereits von Wahlen enttäuscht. »Unseren Politikern geht es nur um ihre eigenen Interessen. Sie kümmern sich nicht um die Anliegen der Menschen, sie sind wie Schauspieler«, sagt eine Studentin der Libanesischen Universität.

Von der Euphorie der Massendemonstrationen gegen die prosyrische Regierung und die syrische Besatzung im Februar ist nichts übrig geblieben. Die antisyrische politische Elite, die nun das Sagen hat, macht nichts anderes als die alte: die eigene Herrschaft sichern und dann sehen, was übrig bleibt.