Panik auf der Titanic

Nach den ablehnenden Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden wird sogar der Euro in Frage gestellt. Die Staats- und Regierungschefs reagieren mit noch mehr Hinterzimmerdiplomatie. von korbinian frenzel, brüssel

Es war ein Schlag, wie ihn die Europäische Union noch nicht erlebt hat. In zwei Gründerstaaten wurde die europäische Verfassung abgelehnt, zunächst stimmten die Franzosen mit deutlichen 55 Prozent dagegen, drei Tage später waren es in den Niederlanden sogar 60 Prozent, die mit Nein votierten. Diese Resultate lassen wenig Platz für Interpretationen. Die Bevölkerung hat sich mehrheitlich gegen die Verfassung und damit gegen ein zentrales politisches Projekt der europäischen Einigung ausgesprochen. Zu groß war der Widerspruch, als dass man eine irgendwie doch vorhandene, grundsätzliche Zustimmung der Bürger zur Verfassung herbeischwindeln konnte. Stattdessen machte das Wort von der »Vertrauenskrise« die Runde in Brüssel und ganz Europa. »What now?« fragte die in Brüssel erscheinende Wochenzeitung European Voice in großen Lettern. Der britische Premierminister Tony Blair zog am Montag die Konsequenz und erklärte, die geplante Volksabstimmung über das Vertragswerk werde in seinem Land vorerst »ausgesetzt«.

Wegen der Ergebnisse der Referenden in Frankreich und den Niederlanden ist nicht nur die Zukunft der Verfassung zweifelhaft. Zur Disposition steht die Zukunft der Europäischen Union insgesamt. Entsprechend nervös wirkten die offiziellen Reaktionen. Selten habe er das politische Personal so fahrig, so widersprüchlich erlebt, bemerkte ein Korrespondent nach der gemeinsamen Pressekonferenz von Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Ratspräsident Jean-Claude Juncker am Donnerstagmorgen, wenige Stunden nach dem niederländischen Debakel. In der gleichen Konstellation waren die beiden bereits am Montag zuvor aufgetreten, um nach dem französischen Referendum Durchhalteparolen auszugeben. Auch die anderen Länder müssten abstimmen können, der Ratifizierungsprozess müsse weitergehen, neue Verhandlungen stünden derzeit nicht zur Debatte. Der Text war bekannt, denn so hatten es die Verantwortlichen in der EU bereits seit Wochen in Anbetracht einer bevorstehenden Abstimmungsniederlage in Frankreich verkündet.

Doch die Dynamik, die die Ablehnung auslöste, war stärker als die vorgefertigten Statements. Die Frage, ob jetzt schneller oder langsamer eine Entscheidung über den Verfassungstext in den anderen Ländern herbeigeführt werden, ob es gar eine Ratifizierungspause bis Ende 2007 geben solle, wirkte geradezu harmlos im Vergleich zu dem, was kommen sollte. Mit dem Vorschlag, zur D-Mark und zur Lira zurückzukehren und das Euro-Projekt zu beenden, sprachen zunächst Wirtschaftswissenschaftler wie der Niederländer Paul de Grauwe das Undenkbare aus. Mit dem italienischen Sozialminister Roberto Maroni schloss sich schließlich auch ein Regierungsmitglied eines Euro-Staates dieser Forderung an. Auch wenn solche Spekulationen als absurd abgetan und von der EU-Kommission unverzüglich verworfen wurden (»Der Euro ist für die Ewigkeit«) – noch wenige Tage zuvor wäre niemand auf die Idee gekommen, die gemeinsame Währung anzuzweifeln. Die Devisenmärkte blieben von solchen Debatten nicht unbeeindruckt: Der Kurs des Euro hat seit den Referenden spürbar nachgelassen.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs versuchen unterdessen, die Verfassungskrise nach Kräften zu meistern und das politische Europa auf eine gemeinsame Linie zu bringen. »Wenn wir nicht schnell Pflöcke einschlagen, gerät die Debatte vollends außer Kontrolle. Niemand darf jetzt die EU oder Teile von ihr in Frage stellen und die Verfassung für gescheitert erklären«, sagte eine Beamtin der deutschen Ständigen Vertretung in Brüssel.

Offensichtlich ist das auch das Ziel der Reisediplomatie, die unverzüglich nach der niederländischen Abstimmung einsetzte. Bereits am Donnerstagabend saß Gerhard Schröder mit Jean-Claude Juncker und dem belgischen Premierminister, Guy Verhoefstadt, in Luxemburg zusammen, am Samstag kam Jacques Chirac zum Bundeskanzler nach Berlin, und am 13. Juni trifft sich Tony Blair mit Schröder. Die Botschaft, die bereits von den ersten Treffen ausging, lautet: Die Lage beruhigen und Zeit für Verhandlungen schaffen! Bis zum nächsten regulären EU-Gipfel Mitte Juni in Brüssel soll deutlich werden, dass die EU funktioniert.

Den Beweis dafür wollen die Regierungschefs ausgerechnet in einem der derzeit schwierigsten Bereiche überhaupt liefern: im Haushalt. Angesichts der langwierigen Verhandlungen wird er traditionell für sechs Jahre aufgestellt. Insgeheim wurde die Entscheidung über das Budget für die Jahre 2007 bis 2013 bereits ins nächste Jahr verschoben, auf die Zeit nach der englischen Ratspräsidentschaft. Nun soll noch unter der gegenwärtigen luxemburgischen Präsidentschaft vor der Sommerpause beschlossen werden, wie viel die EU ausgeben will und von wem die Einnahmen kommen sollen.

»Juncker hat signalisiert, dass er den Nettozahlern weiter entgegenkommen will«, weiß die Diplomatin aus der Ständigen Vertretung. Sein Kompromissvorschlag würde den EU-Haushalt auf 1,055 Prozent des Bruttoinlandsproduktes begrenzen, was dem einen Prozent nahe käme, das die Nettozahler Deutschland, Schweden und Niederlande fordern. Finanziert werden könnte dieser Vorschlag aber nur, wenn die mehr als zwanzig Jahre alte Rabattregel für Großbritannien gestrichen würde. Sie kostet die EU jährlich knapp fünf Milliarden Euro.

Gerade Frankreich dürfte es schmerzen, dass den Briten eine Schlüsselrolle bei der Beilegung der Krise zukommt. »Wenn Blair entscheidet, nicht mehr über die Verfassung abzustimmen, dann sind wir die Totengräber des Projekts«, fürchtet Laura Jones, Mitarbeiterin der Labour Party im Europaparlament. Sie attestiert ihren Landsleuten eine »unverhohlene Freude« an dem Scherbenhaufen, den ausgerechnet die Mustereuropäer auf dem Kontinent angerichtet hätten.

Während die Exekutive nach dem Doppelschock scheinbar die Initiative ergriffen hat, bleibt gerade das außen vor, was viele Verfassungsgegner mit ihrer Ablehnung stärken wollten: die politischen und sozialen Rechte der Bürger Europas. Das Europäische Parlament hat nach einer Woche der Ratlosigkeit nunmehr seine Stimme erhoben und will noch vor dem Treffen der Regierungschefs Mitte Juni über die Zukunft der EU beraten. Die Beteiligung von Bürgervertretern und Verbänden – bei der Ausarbeitung der Verfassung mit dem Konventsmodell erstmals angewendet – steht gar nicht erst zur Debatte.

»Es ist paradox, dass Europas Regierungschefs auf eine derartige Vertrauenskrise der Bürgerinnen und Bürger antworten, indem sie noch mehr als zuvor ihre Verhandlungen in Hinterzimmer vertagen«, beklagt Elodie Verlaine vom Netzwerk der Schwulen- und Lesben-NGO in Brüssel. So könne man vielleicht Handlungsfähigkeit beweisen, das Misstrauen gegenüber Europa werde aber nur weiter wachsen.