Rule Britannia

Vor der britischen Übernahme der Ratspräsidentschaft auf dem EU-Gipfel ist ein Streit mit ideologischen Untertönen entbrannt. von udo wolter

Nach der Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden scheinen die Regierungen der alten EU-Schwergewichte die Flucht anzutreten, nicht nach vorn, sondern in alte Gewohnheiten. Zur Schau getragene Normalität mitten in der tiefsten Krise: Man streitet heftig ums liebe Geld, um den »Britenrabatt« und französische Agrarsubventionen, alles scheint fast wieder so, wie man es seit der Gründung des gemeinsamen europäischen Dorfes gewohnt war.

Die von den französischen und niederländischen Wählern angezettelte »Revolte des Nationalen gegen das ›Postdemokratische‹« (Josef Joffe in der Zeit) scheint auf der Ebene der EU-Diplomatie also vor allem mit Rangeleien um nationale Interessen beantwortet zu werden. Ein Krisentreffen folgte dem nächsten, vor allem zwischen Berlin, Paris und Brüssel entfaltete sich hektische Betriebsamkeit der Staats- und Regierungsoberhäupter. Was der Beruhigung der Lage und der Schaffung von Verhandlungsspielraum vor dem EU-Finanzgipfel dienen sollte, geriet schnell zum vornehmlich zwischen Jacques Chirac und Gerhard Schröder auf der einen und Tony Blair auf der anderen Seite geführten offenen Streit um die weitere Finanzierung des EU-Projekts.

Doch auch wenn es noch gelingen sollte, bis zum Gipfeltreffen, das am Donnerstag in Brüssel beginnt, einen Kompromissvorschlag in den Finanzfragen zu erarbeiten, treten die Verwerfungen kurz vor der turnusgemäßen Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch die Briten offen zutage. Sie verlaufen kaum zufällig entlang derselben Linie wie der Streit um die Finanzen: dort das »angelsächsische Modell« des Kapitalismus neoliberaler Prägung, als dessen Intimfeind sich vor allem Chirac vor dem französischen Referendum gerierte, hier die angeblich »sozialstaatlich gezähmte« Version kapitalistischer Globalisierung, die sich Schröder wie Chirac propagandistisch zugute halten.

»Europa setzt bei der Globalisierung nicht auf einen ungezähmten Kapitalismus, der einen Teil der Bevölkerung ausgrenzt und zu Verlierern stempelt«, heißt es exemplarisch in der Denkschrift »Europa 2000« der Bundesregierung. Dass dies reine Propaganda ist, zeigt sich nicht nur auf nationaler Ebene bei den deutschen Hartz-Programmen und ähnlichen Projekten in Frankreich und anderen EU-Staaten. Im EU-Ministerrat wird derzeit unter anderem darum gestritten, ob bei der Änderung der als »soziale Komponente« gehandelten Arbeitszeitrichtlinie Ausnahmen einzelner Mitgliedsstaaten von einer Begrenzung der Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden zugelassen werden, was Frankreich im Gegensatz zu Deutschland und Großbritannien ablehnt – schöne neue Arbeitswelt des europäischen Kapitals!

Doch gerade weil die Kluft zwischen der deutsch-französischen Europa-Ideologie und der Realität der Forcierung kapitalistischer Verwertung so offensichtlich ist, bedarf es scheinbar ableitender Projektionen. Und so konnte man angesichts der bevorstehenden EU-Präsidentschaft Blairs allenthalben Misstrauensäußerungen gegen ihn lesen.

»Wer dem europäischen Engagement des ›perfiden Albions‹ nie so recht über den Weg traute, dürfte sich bestätigt fühlen: Angloamerika weidet sich insgeheim an der europäischen Malaise, die durch das Nein von Franzosen und Niederländern zur Verfassung ausgelöst wurde. Nun planen die Angelsachsen für eine Zukunft, in der die EU nicht mehr sein wird als eine riesige Freihandelszone, in der kalter Kapitalismus nach amerikanischem Muster dominieren soll«, umschrieb der Londoner Zeit-Korrespondent diese Wahrnehmung. Dass Blair und sein Außenminister Straw angesichts einer in Umfragen prognostizierten noch weitaus deutlicheren Niederlage bei einem Verfassungsreferendum auf der Insel den Ratifizierungsprozess vorerst aussetzten, wurde als weiterer Hieb gegen die europäische Integration interpretiert. Dabei wäre es weder vernünftig noch für die gerade mit knapper Mehrheit wieder gewählte Labour-Regierung innenpolitisch ratsam, wie die »lame ducks« Chirac und Schröder eine Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses nach dem Motto »Augen zu und durch« zu fordern. Für einen Aufschub haben sich mittlerweile auch mehrere osteuropäische Staaten ausgesprochen.

Der neue französische Regierungschef, Dominique de Villepin, präsentierte in seiner Regierungserklärung nunmehr allen Ernstes die Idee, im Falle eines Scheiterns der EU der 25 auf eine deutsch-französische Union zu setzen. Das ist die Drohung mit einem Kerneuropa des franko-alemannischen Chauvinismus. Im Grunde bestätigt sei jedoch nur das durch die Verfassungskrise manifestierte Scheitern der im Irak-Krieg geschmiedeten Pläne, eine deutsch-französisch dominierte Großmacht Europa als global player gegen Amerika einzurichten. »The German-Franco motor is clearly kaputt!« stellte in der vergangenen Woche der Vorsitzende der Liberalen im EU-Parlament, Graham Watson, ebenso schlicht wie zutreffend fest.

Die im Hinblick auf die bevorstehende britische EU-Ratspräsidentschaft immer lauter werdenden anti-angloamerikanischen Töne bewogen den »Political Editor« des linksliberalen Guardian, der im Euro-Identitätskonzert gegen Amerika durchaus gern mittutet, in einem Kommentar gegen die Darstellung Großbritanniens als »Trojanisches Pferd der USA« in der EU Stellung zu nehmen.

Dass Blair direkt nach dem Referendumsdesaster in Frankreich und Holland erst einmal nach Washington reiste, um mit George W. Bush den G 8-Gipfel in Schottland vorzubereiten, fiel zunächst in dieses Wahrnehmungsraster. Tatsächlich aber offenbarte der Besuch erheblichen Dissens mit Bush in Fragen der Klimapolitik und der Armutsbekämpfung in Afrika durch Schuldenerlasse.

Mag sein, dass Blair mit seinen weitreichenden Plänen für das G8-Treffen vom 6. bis 8. Juli auch innenpolitisch darauf zielt, vor seinem erwarteten Abgang während der laufenden Wahlperiode noch sein durch die Beteiligung am Irak-Krieg erworbenes Image der Bush-Hörigkeit loszuwerden. Tatsache ist jedenfalls, dass diese Initiativen durchaus der Linie einer europäischen Außenpolitik entsprechen, was auch immer von ihr zu halten ist.

Nun sind zwar aus Blairs Beschwichtigungen, selbstverständlich auch für »ein starkes Sozialmodell« in Europa einzutreten, das aber den Bedingungen der Globalisierung »angepasst« werden müsse, tatsächlich »neoliberalere« Akzente als bei Chirac und Schröder oder gar Müntefering herauszuhören. Setzt man allerdings dazu die Kluft zwischen nationalistisch-sozialstaatlicher Wohlfühlrhetorik und realem Sozialabbau etwa bei der SPD ins Verhältnis, erscheint die explizit neoliberale Variante zwar keineswegs besser, aber weniger verlogen.

Die britische Regierung wird jedenfalls keineswegs das Staatsprojekt Europa unter ihrer Präsidentschaft endgültig gegen die Wand fahren lassen. Weiterwursteln und zähe, eher technokratisch geführte Verhandlungen über Wege aus der derzeitigen Misere werden das Bild bestimmen. Kritische Linke sollten sich daher an real existierenden europäischen Zuständen abarbeiten und das ideologische Geschwätz über europäische Identität kritisieren.