Unter Brüdern

Vor hundert Jahren hat Norwegen den Unionsvertrag mit Schweden aufgelöst. Zu diesem Zweck wurde die norwegische Monarchie eingeführt. von elke wittich

Nun sei es genug der schwedischen Bevormundung, befanden norwegische Politiker am 7. Juni 1905 und kündigten einseitig den erzwungenen Unionsvertrag mit dem Nachbarland. Nach der Niederlage Napoleons war das bis dahin zu Dänemark gehörige Norwegen 1814 dem Nachbarstaat zugesprochen worden. Dieses Jahr wurde das hundertjährige Jubiläum der Unionsoppløsning, der Unionsauflösung, gefeiert, unter anderem mit der Einweihung einer neuen, mehrspurigen Brücke zwischen beiden Ländern am Svinesund. Die in den fünfziger Jahren erbaute alte Brücke war einfach viel zu klein geworden für die vielen Pendler, die täglich über die Grenze fahren, die quer durch den Fjord verläuft.

Wer warum wohin fährt, spiegelt die wirtschaftlichen Verhältnisse in den beiden Ländern wider. Schweden fahren nach Norwegen, um dort zu arbeiten; die Arbeitslosenquote tendiert in diesem Land gegen Null. Die norwegische Regierung versucht, in allen EU-Staaten Ärzte, Handwerker und Pflegepersonal anzuwerben, und lockt mit guter Bezahlung und guten Sozialleistungen. Denn der ehemals arme Staat gehört mittlerweile dank des Öls, das vor seiner Küste gefundenen wurde, zu den reichsten Ländern der Welt. Der größte Teil der aus dem Verkauf des Rohöls erzielten Gewinne fließt dabei nicht in den Haushalt, sondern wird in einem Zukunftsfonds angelegt, der Norwegen auch nach dem Versiegen der Ölquellen Wohlstand garantieren soll.

In Schweden gibt es kein Öl, die wirtschaftliche Entwicklung stagniert seit Jahren. Das noch in den siebziger Jahren viel beachtete Wohlfahrtsmodell wurde inzwischen abgeschafft, die Arbeitslosenquote liegt bei 6,8 Prozent. Wenn man ein bisschen vorausschauend gewesen wäre, scherzt man in Schweden gern, hätte man die Norweger nicht einfach so mit ihrem Öl ziehen lassen und könnte heute vom Reichtum des früher so belächelten kleinen Bruders zehren.

Grenzregionen wie die Gegend um den Svinesund profitieren von den norwegischen Kunden. Dort sind riesige Supermärkte entstanden, denn die Preise für Lebensmittel sind in Schweden in den vergangenen Jahren drastisch gesunken. In Norwegen legt man dagegen Wert auf den Schutz der heimischen Produzenten und erschwert Importe durch hohe Verbrauchssteuern. Dementsprechend kann beim Einkauf im Nachbarland gut ein Drittel der Kosten für nicht norwegische Produkte gespart werden. Zudem musste Schweden auf Druck der EU seine rigide Alkoholpolitik lockern und die Steuern senken. »Die Norweger fahren zum Alkoholkauf nach Schweden, die Schweden nach Dänemark und die Dänen nach Deutschland«, hieß es im Kommentar einer schwedischen Zeitung. Freitags, kurz vor Ladenschluss in Schweden, kann die Autoschlange am Svinesund durchaus zehn oder gar 15 Kilometer lang sein.

Daher wurde aus der Brückeneröffnung am 10. Juni tatsächlich ein ausgelassenes Volksfest, denn die Überquerung kostet zwar zwei Euro Maut, dafür sollen die Warteschlangen wesentlich kürzer werden. Vor allem werde gefeiert, so betonten die an dem Festakt beteiligten norwegischen und schwedischen Politiker, dass es nach der Vertragskündigung damals keinen Krieg gegeben habe.

Was vor allem das Verdienst des Polarforschers Fridtjof Nansen war, der im Herbst des Jahres 1905 seine immense Popularität dazu nutzte, um für die Errichtung einer norwegischen Monarchie zu plädieren. Denn wie das militärisch weit überlegene Schweden auf die ungewollte Unionsauflösung reagieren würde, war unklar. Norwegen wollte daher so schnell und von so vielen Ländern wie möglich völkerrechtlich anerkannt werden und suchte nach der für diesen Zweck optimalen Staatsform.

Mit Frankreich und der Schweiz existierten in Europa zu der Zeit nur zwei republikanisch verfasste Staaten. Die monarchistisch regierten Großmächte Deutschland, Russland und Großbritannien wollten keinen weiteren republikanischen Staat in ihrem Einflussgebiet dulden. Wohl wissend, dass der düpierte König Oscar II. niemals darauf eingehen würde, boten ihm norwegische Unterhändler an, er könne einen schwedischen Prinzen für das Amt des künftigen norwegischen Monarchen aussuchen. Damit signalisierte man, dass Norwegens künftige Staatsform die Monarchie sein werde.

Nachdem Oscar II. wie erwartet abgelehnt hatte, wurde der Wunschkandidat angesprochen. Der dänische Prinz Carl aus dem Hause Glücksburg war in mehrfacher Hinsicht die Idealbesetzung für die Königsrolle. Er sprach Norwegisch, konnte mit seinem zweijährigen Sohn bereits einen potenziellen Thronfolger aufweisen, und seine Frau Maud war die Tochter des britischen Königs Edward VII. Die Unterstützung des britischen Imperiums wäre Norwegen somit sicher gewesen.

Der Prinz stürzte sich allerdings nicht begeistert auf die unerwartete Chance, doch noch König zu werden. Der spätere Friedensnobelpreisträger Fridtjof Nansen musste mehrmals nach Kopenhagen reisen, bis Carl schließlich zustimmte. Nachdem sich die überwältigende Mehrheit der Wahlberechtigten in einem Plebiszit für die Monarchie ausgesprochen hatte, wurde Carl am 18. November 1905 unter dem Namen Håkon V. gekrönt.

Das Verhältnis zwischen Norwegen und Schweden entwickelte sich ausgesprochen herzlich, zumal man sich schon rein sprachlich gut verstand. Nur während des Nationalsozialismus gab es einige Irritationen. Am 7. Juni 1940 mussten König Håkon und sein Kabinett vor den Nazis nach Großbritannien fliehen. In den folgenden Jahren arbeiteten der Monarch und sein Sohn Olav eng mit der Exilregierung in London zusammen, die den Widerstand in Norwegen unterstützte. Dass die deutschen Besatzer das für die Kriegsproduktion benötigte norwegische Eisenerz über den eisfreien schwedischen Hafen Kiruna nach Deutschland bringen konnten, nahmen viele Norweger dem neutralen Nachbarland übel.

Heutzutage sind gegenseitige Sticheleien üblich. Egal um welches Ereignis es geht, den Grand Prix oder die Fußball-WM, es wird zunächst ausgiebig der »söta bror« (der süße Bruder, Schweden) oder der »lilla bror« (der kleine Bruder, Norwegen) angegangen. Insgesamt sieht man sich jedoch als Skandinavier und fiebert mit, wenn Norweger Handballweltmeister oder Schweden Sieger beim Ski-Abfahrtsrennen werden. Der politische Einfluss beider Staaten aufeinander ist jedoch denkbar gering, auch in Norwegen überwiegt der Einfluss der EU und der USA. Norwegen gehört zwar nicht der EU an, pflegt aber gute Beziehungen zur Union. Der Einführung von EU-Bestimmungen begegnet die Bevölkerung allerdings mit Misstrauen. In einer Umfrage gaben mehr als 60 Prozent der Befragten an, dass dies gegen das Grundgesetz der parlamentarischen Monarchie verstoße. Dabei zeigen sich die Norweger erstaunlich gut über das informiert, wogegen sie sind. 68 Prozent der Befragten konnten in einer von einem Politikinstitut durchgeführten Untersuchung genau erklären, welche europäischen Normen in welche Gesetze ihres Landes eingeflossen sind.

Wie eine Umfrage in der vergangenen Woche ergab, würden zehn Prozent der Norweger gern wieder in einer Union mit Schweden leben. 1905 hatten 0,06 Promille oder genau 184 Stimmberechtigte gegen die Auflösung der Union gestimmt.