Zeit ist Geld

Der neue Weltrekordler über 100 Meter ist kein typischer Sprintstar. von elke wittich

Als der Sprinter Asafa Powell in der vorigen Woche für das Leichtathletik-Meeting in Athen einen Angriff auf den bestehenden Weltrekord über 100 Meter ankündigte, gab es durchaus Gründe, ihm zu glauben. Schließlich hält der 22jährige Jamaikaner, anders als die meisten seiner Kollegen, nichts von der üblichen Prahlerei vor dem Start. Auf Pressekonferenzen die Gegner durch Machosprüche zu beeindrucken, gehört definitiv auch nicht zu seinem Stil, wie er gern erklärt: »Mir wurde zu Hause beigebracht, bescheiden und ruhig zu bleiben. Ich bin nicht der Typ, der sich in einem Hype wieder findet. Ich will das auch niemals ändern.«

Zudem hatte Powell in diesem Jahr schon mehrfach sehr gute Zeiten vorgelegt. Anfang Mai lief er seine Lieblingsstrecke in Kingston in 9,84 Sekunden, eine Woche später zeigte er bei einem Meeting in Ostrawa, dass diese Leistung kein Zufall gewesen war. Der Student der Sportmedizin gewann in 9,85 Sekunden.

Auf der anderen Seite suchte sich Powell mit Athen ausgerechnet den Ort seiner größten Niederlage für den geplanten Weltrekord aus. Bei den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr wurde der Mann aus Kingston als heißer Favorit auf eine Medaille gehandelt, schließlich hatte er bis dahin alle Rennen, zu denen er antrat, gewonnen. Asafa Powell fuhr dann jedoch völlig enttäuscht aus Athen ab, nachdem er im Olympia-Sprint lediglich Fünfter geworden war.

Es sollte eine Weile dauern, bis er sich von dieser Enttäuschung erholt hatte. Und dann ging in Athen alles ganz schnell. »Ich wusste, dass ich es drauf habe. Ich habe mein Bestes gegeben. Der schnellste Mann der Welt zu sein, ist einfach großartig«, jubelte Powell, als er auf der Anzeigetafel »9,77« blinken sah. Und er ließ sich ausgiebig feiern von gerade mal 5 000 Fans, die sein Rekordversuch ins 74 000 Zuschauer fassende Stadion gelockt hatte.

Bevor sein Weltrekord feststand, hatte der neue Leichtathletik-Star noch ein bisschen zittern müssen. Zunächst war seine Zeit mit 9,78 Sekunden angegeben worden, so dass er lediglich mit dem alten Rekord des US-Amerikaners Tim Montgomery vom 14. September 2002 gleichgezogen hätte. Aber Powell ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass die gemessenen Zeiten häufig nach der Analyse des elektronischen Zielfotos noch einmal korrigiert werden, und so wartete er grinsend auf der Tartanbahn. Als dann tatsächlich »9,77« aufblinkte, begann der große Jubel.

Und wohl auch beim Internationalen Leichtathletikverband IAAF, der auf diese Weise ein echtes Problem los ist. Tim Montgomery ist nämlich einer der Sportler, der im so genannten Balco-Prozess, dem spektakulärsten Verfahren in der Geschichte der US-Leichtathletik, in dem es um gezieltes und flächendeckendes Doping geht, beschuldigt wird. Vor zwei Wochen musste er sich einer Anhörung durch den Internationalen Sportgerichtshof CAS stellen. Die Beweise sind derart erdrückend, dass er wohl lebenslänglich gesperrt wird.

Sein Weltrekord müsste ihm dann aberkannt werden, was immer eine peinliche Angelegenheit ist, lenkt dieser Vorgang doch wieder die Aufmerksamkeit darauf, wie dopingverseucht der Leistungssport mittlerweile ist.

Powell wird daran nicht gedacht haben, als er sich jubelnd auf seine Ehrenrunde begab. Schließlich war er am Ziel seiner Träume – und nicht nur seiner. Der neue Weltrekordler stammt aus einer zutiefst christlichen Familie, sein Vater arbeitet in Kingston als Priester. Die Powells sind aber auch noch ausgesprochen sportbegeistert, der kleine Asafa wurde von seinen älteren Brüdern zur Leichtathletik gebracht. Einer von ihnen, Donovan, nahm sogar an den Olympischen Spielen von Sydney teil, allerdings war er nur Ersatzmann für die jamaikanische 4 x 100-Meter-Staffel, die im Finale Vierte wurde.

Für Donovans jüngsten Bruder begann nach seiner Ehrenrunde gleich die Vorbereitung auf die Zeit danach. Als schnellster Mann der Welt wird Powell künftig einer der Stars auf den internationalen Meetings sein und entsprechend hohe Gagen fordern können. Zumal weitere Weltrekorde nicht ausgeschlossen sind, wie er in Athen selbstbewußt erklärte: »Abwarten. Das war noch nicht alles.« Der Lauf von Athen sei »nicht perfekt« gewesen, denn »dreißig Meter vor dem Ziel war ich plötzlich verspannt und viel zu steif«.

Der 1,90 Meter große und 88 Kilogramm schwere Sprinter sieht allerdings auch Grenzen der Entwicklung. Zeiten bis 9,69 Sekunden seien durchaus möglich. »Darunter geht allerdings nichts mehr.«

Aber eigentlich galten die meisten bisher aufgestellten Weltrekorde über 100 Meter als unüberwindlich. Am 14. Oktober 1968 blieb bei den Olympischen Spielen von Mexiko-Stadt mit Jim Hines der erste Mann unter der als magisch geltenden Zehnsekundengrenze.

Erst am 3. Juni 1983 schaffte es Calvin Smith, mit 9,93 Sekunden diese Zeit zu unterbieten, danach sollte es weitere vier Jahre dauern, bis der Rekord erneut gebrochen wurde. Am 30. August 1987 lief Carl Lewis in Rom die Kurzstrecke in 9,92 Sekunden.

Einer fehlt jedoch in der Liste der schnellsten Männer der Welt: Ben Johnson. Der Kanadier erreichte 1988 bei den Olympischen Spielen von Seoul die neue Fabelzeit von 9,79 Sekunden, musste jedoch drei Tage später seine Goldmedaille wieder abgeben, da er als einer von zehn Sportlern des Dopings überführt wurde.

Ben Johnson, der in 19 Dopingkontrollen zuvor immer negativ getestet worden war, beteuerte lange Zeit seine Unschuld, musste dann aber schließlich doch zugeben, dass er auf Geheiß eines Mitarbeiters anabole Steroide eingenommen hatte. Viele Fans wollten trotzdem lieber an eine saubere Leichtathletik glauben, denn der Fall Ben Johnson habe ihnen ansonsten vor allem eines gezeigt: Die Grenzen dessen, was der menschliche Körper zu leisten imstande ist, sind längst erreicht, neue Rekorde sind nur noch mit Hilfe illegaler Substanzen möglich. In einer Trotzreaktion wählten ihn deshalb seine kanadischen Landsleute Ende 1988 zum Sportler des Jahres.

Ben Johnsons Versuche, nach seiner Sperre ein Comeback zu starten, scheiterten ausnahmslos. Trotzdem führt er immer noch ein Leben als B-Promi. Und als solcher tauchte er ausgerechnet nach dem neuen Weltrekord wieder in der Öffentlichkeit auf. Johnson war als Gaststar zur Präsentation einer schweizerischen Firma eingeladen worden und gab dort einer Tageszeitung ein Interview. Was er aus der Schande, seine Goldmedaille zurückgeben zu müssen, gelernt habe, wollte der Reporter wissen. »Welche Schande? Die Schande, dass ich dassselbe tat wie alle anderen?« Was er daraus gelernt habe: »Es ist ihre Medaille, nicht meine!«

Mal sehen, wem die Auszeichnungen von Asafa Powell in Wirklichkeit gehören werden …