Abenteuer Schizophrenie

Die Verfassung konstituiert eine undemokratische, von den nationalen Regierungen beherrschte EU. Doch ein »besseres« Europa zu schaffen, kann für die radikale Linke keine Alternative sein. von jörn schulz

Die Politiker, die die Verfassung der EU geschrieben haben, gelten als phantasielose Bürokraten ohne Visionen. Doch das ist ein unfaires Urteil. Immerhin haben sie ein neues Menschenrecht erfunden. Unter dem Titel »Würde des Menschen« wird in Artikel II-16 festgestellt: »Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.« Das könnte der Menschenrechtsdebatte ganz neue Impulse verleihen. Eine Fabrikbesetzung ist fortan nicht einfach nur illegal, sondern eine Menschenrechtsverletzung.

Die Verfassung einer parlamentarischen Demokratie ist implizit immer das Grundgesetz eines kapitalistischen Staates. In früheren Zeiten hatte die Bourgeoisie aber noch Anstand genug, ihren Interessen nicht gleich Verfassungsrang zu geben. Man begnügte sich in der Regel mit der Festscheibung des Eigentumsrechts. Eine Verfassung spiegelt jedoch immer auch das gesellschaftliche Kräfteverhältnis wieder. Eine von der sozialen Revolution bedrohte Bourgeoisie muss vorsichtig agieren. Wenn die Lohnabhängigen dagegen trotz der ständigen Verschlechterung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen apathisch bleiben, ist die Versuchung groß, den Vorrang der Kapitalinteressen in der Verfassung festzuschreiben.

Die linke Kritik an der EU-Verfassung konzentriert sich meist auf diese »neoliberalen« Bestimmungen. Tatsächlich droht eine Einschränkung demokratischer Rechte, wenn beispielsweise dem freien Warenverkehr Verfassungsrang zuerkannt wird. Ein solidarischer oder politischer Streik, der den Warenverkehr notwendigerweise behindert, ist dann eine kriminelle, verfassungswidrige Aktivität. Das Streikrecht gewährt die Verfassung nur für tarifliche Auseinandersetzungen.

Das entscheidende Problem ist jedoch nicht der Inhalt der Bestimmungen, sondern die Tatsache, dass es sie überhaupt gibt. Eine Verfassung soll die Menschenrechte fixieren, die Struktur des politischen Systems festlegen und den Institutionen ihre Aufgaben zuweisen. Alles andere haben die bürgerlichen Individuen mit den von ihnen geschaffenen Organisationen täglich aufs Neue auszuhandeln. Eine keynesianische Verfassung wäre also ebenso undemokratisch wie der »neoliberale« Entwurf der EU-Politiker.

Deren wichtigstes Ziel ist es, ihre Arbeit zu vereinfachen. Über Dinge, die ihnen selbstverständlich und unerlässlich erscheinen wie die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, »ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern«, wollen sie nicht mehr verhandeln müssen. Also schreibt man sie in der Verfassung »auf unbegrenzte Zeit« fest.

»Die Regierungsmaschinerie kann gar nicht einfach genug sein. Es ist immer die Kunst der Spitzbuben, sie kompliziert und geheimnisvoll zu machen«, kommentierte Karl Marx die 1848 verabschiedete französische Verfassung. An diesem Maßstab gemessen, ist das komplexe Reglement der EU-Verfassung ein Werk der organisierten Kriminalität.

So bleibt unklar, was die dem Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, obliegende Festlegung der »allgemeinen politischen Zielvorstellungen« von der »Politikfestlegung« unterscheidet, die Aufgabe des Ministerrats ist. Klar ist dagegen, dass die europäischen Institutionen nicht dem Mindeststandard der bürgerlichen Demokratie entsprechen. Dass der Ministerrat, ein Gremium der Exekutive, »gemeinsam« mit dem Europäischen Parlament Gesetzgebungskompetenz hat, bricht das Prinzip der Gewaltenteilung. Traditionell hat ein Parlament in einer bürgerlichen Demokratie fünf zentrale Kompetenzen: Die Wahl der Regierung, die Verabschiedung von Gesetzen, die Beschlussfassung über das Budget, die Kontrolle der Regierung und die Entscheidung über Krieg und Frieden. Das Europäische Parlament hat keine dieser Kompetenzen.

Es sollte nicht der Job radikaler Linker sein müssen, die Prinzipien der bürgerlichen Demokratie zu erläutern. Jedem bürgerlichen Demokraten müsste es eigentlich eine Herzensangelegenheit sein, gegen den Verfassungsentwurf zu protestieren. Insbesondere in Deutschland, wo das demokratische Bewusstsein schwach entwickelt ist, gehörte es jedoch schon immer zu den lästigen, aber unvermeidlichen Aktivitäten der Linken, darauf zu achten, dass Staat und Kapital sich an die Spielregeln halten.

Nicht nur die radikale Linke, sondern auch Pazifisten und Keynesianer würden nach der Ratifizierung der Verfassung außerhalb des als legitim definierten politischen Rahmens stehen. Es ist zwar noch unabsehbar, welche konkreten Folgen das haben wird. In einer Zeit, in der Graffiti-Sprayer mit Hubschraubern gejagt werden, wäre es jedoch selbstmörderisch, eine solche Verfassung in der Hoffnung zu akzeptieren, dass alles nicht so schlimm kommen wird.

Die Verteidigung halbwegs akzeptabler Lebens- und Arbeitsbedigungen sollte jedoch nur die Basis für die eigentlich wichtigen Aktivitäten sein. Was ist vom »Projekt Europa« überhaupt zu halten? Die EU- und Verfassungsdebatte bringt die radikale Linke in eine problematische Situation. Nicht nur für die rechten Verfassungskritiker, sondern auch für die keynesianischen Linken ist der regulierende Nationalstaat die Alternative zur angeblich anonymen EU-Bürokratie. Diese Ansicht ist zwar recht leicht zu widerlegen, denn es sind die Regierungen der Nationalstaaten, die die entscheidenden EU-Gremien bilden und ihre Politik bestimmen. Doch Ressentiments halten sich hartnäckig, und Oskar Lafontaine beweist derzeit ein weiteres Mal, dass die Grenzen zwischen sozialdemokratischem und rechtem Populismus fließend sind.

Auch ist es bestenfalls eine vage Hoffnung, dass die europäische Integration den Nationalismus schwächen wird. Selbst wenn die bestehenden Staaten tatsächlich aufgelöst würden, wäre das nur eine Transformation auf die höhere Ebene einer europäischen Nation. Die EU orientiert sich am Territorialprinzip und an einem diffusen ideologischen Begriff von »Europa«. Umstritten ist allein, welche Länder dazu gehören und ob Muslime dabei sein dürfen. Auch die Vertreter eines friedlicheren, sozialeren und ökologischeren Europas stellen dieses Prinzip nicht in Frage.

Die Organisationsform einer sozialistischen Gesellschaft kann zunächst nur die einer Räterepublik sein. Ihre Aufgabe ist nicht der Aufbau eines »besseren« Staates, vielmehr soll sie dessen Absterben organisieren. Ohne nationale oder andere Identitäten, aber auch ohne territoriale Begrenzung. Wenn der Anspruch auf Zugang zu den gesellschaftlichen Ressourcen nicht mehr an die Staatsangehörigkeit gebunden ist, verliert der Nationalismus seine materiellen Grundlagen.

Der Nationalstaat ist das grundlegende Organisationsprinzip des Kapitalismus. Der Nationalismus kann mehr oder weniger rabiat sein, verschwinden wird er nicht aus der bürgerlichen Gesellschaft. Doch selbst dem etwas bescheideneren Ziel, wenigstens Deutschland abzuschaffen, dient die europäische Integration nicht. Denn die nationalistische Rechte könnte eigentlich zufrieden sein mit dieser Verfassung. Sie konstituiert das »Europa der Vaterländer«. Bereits in der Präambel wird behauptet, »die Völker Europas« seien »stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte«. Die EU »achtet die nationale Identität der Mitgliedstaaten«, und die »grundlegenden Funktionen des Staates« sollen erhalten bleiben.

Die nationalstaatliche Konkurrenz wird nicht aufgehoben, sondern in den europäischen Institutionen ausgetragen. Die Staaten konkurrieren um das Wohlwollen der Investoren und schützen die Interessen der nationalen Bourgeoisie. Sie haben eine gemeinsame Währung geschaffen, ihre Wirtschaftspolitik wollen sie aber nur »koordinieren«. Und obwohl der Hohe Repräsentant für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zukünftig schlicht Außenminister heißen soll, zeigen die EU-Regierungen keinerlei Neigung, ihre jeweils eigenständige Außenpolitik aufzugeben.

Die Einschätzung, dass die EU den Nationalismus schwächt, beruht auf der Annahme, dass die europäische Integration funktioniert und zudem noch den Massenwohlstand steigert. Tatsächlich ist der Lebensstandard in Ländern wie Portugal nach dem EU-Beitritt gestiegen. Doch seit sie nicht mehr durch eine Abwertung ihrer Währung Wettbewerbsvorteile gewinnen können, wächst der Abstand zu den führenden EU-Staaten. »Der Süden der Euro-Zone droht in eine anhaltende Wachstumskrise zu rutschen«, stellte die Financial Times Deutschland im Mai fest. Den osteuropäischen Beitrittsländern dürfte es kaum besser ergehen. Wenn die Hoffnungen enttäuscht werden, die sie auf eine von der EU beflügelte kapitalistische Modernisierung setzen, könnte die Popularität der nationalistischen Rechten erheblich zunehmen.

Kapitalismus ist institutionalisierte Schizophrenie. Einerseits soll das Individuum mit anderen konkurrieren, sie also übervorteilen und ihre Interessen missachten, andererseits soll es sich solidarisch in der »Gemeinschaft« betätigen. Der gleiche Widerspruch prägt die Politik im europäischen Integrationsprozess, der in der Verfassung als »Abenteuer« bezeichnet wird. Die meisten Individuen können ihn ertragen, ohne psychiatrischer Behandlung zu bedürfen, und auch in der EU muss die institutionalisierte Schizophrenie nicht zu einem katastrophalen Zusammenbruch führen. Da die gemeinsamen Interessen weiterhin überwiegen, ist eher eine längere Phase der Stagnation zu erwarten. Solange die radikale Linke kein relevanter politischer Faktor ist, ist das der bestmögliche Zustand.