Der Kaiser der Republik

Torsten Körner gelingt es in seiner Beckenbauer-Biografie, den Aufstieg des Protagonisten in kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen einzubetten. von rené martens

Muss man eine Franz-Beckenbauer-Biographie lesen? Reicht es nicht zu wissen, dass er als Spieler brillant und als Trainer erfolgreich war, aber heute, als Franzdampf in allen Gassen der Medien- und Werbewelt und nicht zuletzt als schillerndster Pate der Fußball-Industrie, meistens nervt? Außerdem gibt es ja rund ein Dutzend Bücher über den erfolgreichsten deutschen Fußballer. Die erste Autobiographie erschien bereits im Herbst 1966 (Honorar für den Star: 50 000 Mark), obwohl der damals noch im Mittelfeld des FC Bayern Regie führende Beckenbauer gerade erst 21 Jahre alt war, andererseits immerhin schon eine WM gespielt und zwei Söhne gezeugt hatte. Der Trend, Biographien über Menschen auf den Markt zu bringen, über die es naturgemäß noch kaum etwas zu erzählen gibt, ist also keineswegs ein Auswuchs der heutigen Mediengesellschaft.

Vor allem die frühen Biographien – 1975 lagen bereits sechs vor – vermitteln ein wenig reales Bild ihres Helden, jedenfalls sagt einer von Beckenbauers Söhnen heute: »Die sind ja wie Romane geschrieben.« Der Protagonist selbst hat einige davon nicht einmal gelesen. Torsten Körner beschreitet in seinem Buch »Franz Beckenbauer. Der freie Mann« jetzt einen Weg, der in der deutschsprachigen Fußball-Literatur selten ist. Ihm gelingt es, den Aufstieg seines Protagonisten in kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen einzubetten.

Der Anlass für die Veröffentlichung ist der 60. Geburtstag Beckenbauers im September, aber es passt auch bestens, dass im nächsten Jahr die WM in Deutschland stattfindet, die, so geht die Legende, Beckenbauer ins Land geholt hat. Kurz nach Erscheinen baute eine Buchladenkette einen Turm aus Körners Büchern und setzte das tapsige WM-Maskottchen Goleo oben drauf. »Der freie Mann« als WM-Merchandising-Artikel, sozusagen. Ein großes Missverständnis, zumal Körner betont, dass die Republik ihre WM beileibe nicht allein ihrem Kaiser verdankt, sondern auch dessen sportpolitisch mit allen Wasser gewaschenem Vasallen Fedor Radmann, dem Kanzler, dem Auswärtigen Amt und Daimler-Chrysler, um nur wenige zu nennen.

Körner, der unter anderem eine Biographie über den Schauspieler Heinz Rühmann verfasst hat und regelmäßig Fernsehkritiken für die Bonner Medienfachzeitschrift Funkkorrespondenz schreibt, wollte keine autorisierte Biographie schreiben, sondern »aus der Halbdistanz«: kritisch, aber in Kooperation mit dem Protagonisten. Was für Rühmann gilt, gelte auch für Beckenbauer, sagt er: »Man kann voraussetzen, dass das Publikum die Biographie in groben Zügen kennt, und deshalb andere Geschichten erzählen.«

Auf jene Buchpassagen, in denen Beckenbauer nicht besonders gut wegkommt, habe dieser »souverän« reagiert, sagt Körner. Das könnte auch daran liegen, dass der Autor seiner Figur bei aller Kritik stets mit Respekt begegnet, manchmal sogar mit Verständnis: »Seine flexible Fröhlichkeit, sein Giesinger Phlegma, seine weißbiergrundierte Lebenslässigkeit gepaart mit seinem weltdörflich erworbenen Charme machen ihn zu einem Deutschen, vor dem man nicht davonlaufen muss. Vor ihm gibt es kein Entkommen, aber umgekehrt gilt das auch: Er entkommt uns nicht. Es ist nicht seine Schuld, dass wir so an ihm hängen, aber dass alle Welt an ihm zerrt, sollte uns zu denken geben, was uns der Fußball alles ersetzen soll.«

Hat der deutsche Nationalheld wirklich so wenig Deutsches an sich? Das klingt auch dort an, wo Körner beschreibt, wie Beckenbauer bei den Mitgliedern des Fifa-Exekutivkomitees für den WM-Austragungsort Deutschland warb: »Seine Eroberungslust kam so undeutsch, so defensiv, freundlich und zivil daher.« Walter Jens hatte schon vor 30 Jahren im Stern behauptet, »der bekannteste lebende Deutsche« habe »mit dem, was man sich gemeinhin unter einem Deutschen vorstellt, diesem Kraftmenschen, Fanatiker und einzigen Schaffer, wenig gemein. Er ist kühl, salopp, undiszipliniert, ironisch, selbstironisch sogar.« Viele Deutsche, vor denen man, um Körners Formulierung zu variieren, davonlaufen muss, genießen nichtsdestotrotz die Nähe des vermeintlich undeutschen Heros, umschmeicheln ihn sogar – sei es Schröder, Schily oder Stoiber.

Körner gibt Anlass zu der Spekulation, ob sich Beckenbauer gewisse positive Eigenschaften in seiner sportlich besten Zeit angeeignet hat. Weist der Autor doch darauf hin, dass sein »freier Mann« diese in einem vergleichsweise intellektuellen Umfeld erlebte. Die Bayern-Elf der frühen Siebziger galt als Abituriententruppe, und so erinnert Körner beispielsweise an einen Spieler namens Edgar Schneider, »der später Sozialpädagogik studierte und heute auf dem Jugendamt in Pforzheim arbeitet«. Es kursierte sogar das – offensichtlich falsche – Gerücht, einige Spieler hätten sich während des Trainings auf Latein unterhalten, was Beckenbauer ziemlich gefuchst habe. So gesehen, war der FC Bayern der SC Freiburg der siebziger Jahre.

Insgesamt forschte Körner zweieinhalb Jahre in Beckenbauers Vergangenheit: Er traf die Mutter des Stars, ehemalige Lehrer sowie alte Freunde, die dem Kaiser aus dem Blickfeld geraten waren. Auf einer Pressekonferenz lobte Beckenbauer deshalb, der Autor habe ihm ein Stück seiner Kindheit wieder geschenkt.

Ein zentrales Thema dieses Buches ist die Rolle, die die Medien in Franz Beckenbauers Erfolgsgeschichte gespielt haben. Wie haben sie ihn geprägt, und wie hat er sie benutzt? Körner zitiert Ingrid Kolb, die langjährige Leiterin der Journalistenschule von Gruner & Jahr: »Man könnte ihn, denke ich, auf der nächsten Documenta in Kassel ausstellen. Kein Kunstwerk würde besser vermitteln, was der ständige Umgang mit den Medien bei einem Menschen anrichtet, der sich ihnen so willig überlässt.«

Beckenbauers Entwicklung zur Medienfigur ist nicht zu trennen von den Veränderungen auf dem Münchener Zeitungsmarkt in den Jahren 1968/69: Zuerst bekommt die Abendzeitung, bis dato Monopolist auf dem Boulevard-Sektor, durch die tz Konkurrenz, dann startet die Bild-Zeitung eine Regionalausgabe. Die Intimisierung des Fußballs beginnt, und der junge Womanizer im Bayern-Trikot erweist sich als das ideale Objekt – der Auftakt zu einer, wie Körner es nennt, »Liaison« mit Bild, ohne die Beckenbauer nicht hätte werden können, was er wurde. Bis heute hat er für zwei Bild-Journalisten als Trauzeuge fungiert, beim Sohn eines anderen als Taufpate. Zwischen den Weltmeisterschaften 1966 und 1970 verändert sich auch seine Position im Machtgefüge des deutschen Fußballs: Als die DFB-Auswahl 1970 zur WM nach Mexiko fliegt, ist Gattin Brigitte mit dabei – als einzige Spielerfrau.

»Erfolg ist wie ein scheues Reh. Erfolg ist etwas Unerklärliches.« Das hat Franz Beckenbauer auf einem seiner sehr zahlreichen Ausflüge ins Blumige zu verstehen gegeben. Torsten Körner zeigt, dass es sehr wohl Erklärungen gibt. Beckenbauer habe zum »langlebigsten Erfolgsgaranten seit 1945« unter anderem deshalb werden können, weil er einen »Wunsch-Aufsteiger« verkörpere, einen »Aufsteiger-Typ, der kein Parvenü ist, der nicht nach Schweiß riecht, sich nicht die Hemdsärmel hochkrempelt«, vielmehr alles »anstrengungslos« erreicht.

In dieser Geschichte gibt es, wie Körners Buch zeigt, allerdings auch Brüche. »Wenn man sich mehr um ihn bemüht hätte, wäre er heute noch Rekordnationalspieler«, meint der Autor. Franz Beckenbauers Karriere im Trikot der Nationalmannschaft ging relativ früh zuende – 1977, im Alter von 32 Jahren. Der Kapitän der Nationalelf wechselte damals zu Cosmos New York, und das empfand der DFB als Vaterlandsverrat. Angesichts des Heiligenstatus, den »der gefühlte Bundespräsident« (Süddeutsche Zeitung) heute genießt, kann man sich das kaum noch vorstellen.

Torsten Körner: »Franz Beckenbauer. Der freie Mann«. Scherz-Verlag, Frankfurt/Main 2005, 380 Seiten, 19,90 Euro