Local Players

Am Wochenende tagte in Erfurt das erste deutsche Sozialforum. martin kröger (text), tim zülch und gordon welters (fotos) haben sich dort umgesehen

So hat sich Frank Spieth, Vorsitzender des DGB-Thüringen, das sicherlich nicht vorgestellt, als er vor einiger Zeit gemeinsam mit Erfurter Erwerbslosen die Initiative ergriff, um das Sozialforum in die thüringische Landeshauptstadt zu holen. Eben noch, als er den Sozialabbau in Deutschland kritisierte, haben ihm die knapp tausend Menschen, die es sich auf den Bierbänken im Großraumzelt auf dem Erfurter Domplatz gemütlich gemacht haben, zugejubelt. Dann aber brandet auf einmal eine Woge der Emotionen und des Unmuts auf wie selten in diesen Tagen. Spieth sagt den Leuten, die sich zum ersten deutschen Sozialform in Erfurt versammelt haben: »Unser erstes Ziel muss sein, dass Hartz IV nachgebessert wird.« Nach diesem Satz, der eigentlich nur die Politik der Gewerkschaften der vergangenen Monate spiegelt, kann der Gewerkschaftsfunktionär immerhin fünf Minuten lang nicht weitersprechen, so lautstark wird er von der wütenden Menge niedergebrüllt.

Danach kommt es zu einer Szene, die bezeichnend für den Zustand dieser Zusammenkunft ist, von der behauptet wird, sie sei eine Vertretung der Betroffenen und der sozialen Bewegungen in Deutschland: Einer der Organisatoren tritt ans Mikrofon und erklärt den Anwesenden die Bestimmungen. »Das ist ein Sozialforum, man darf den anderen nicht übertönen!« maßregelt der Moderator die Menge. Es sei schließlich nur möglich, gemeinsam in einem sozialen Bündnis mit den Gewerkschaften zu handeln. Kritik, gar eine Aussprache über den Sachverhalt scheint unerwünscht. Schnell wird die Theatergruppe »Global Players« auf die Bühne geholt und Frank Spieth von wohlwollenden Organisatoren in Obhut genommen.

Chaosfreiheit

Zu betreuen hat auch Peter Vogel einiges. Der pensionierte Journalist ist einer der Helfer des Sozialforums, die sich von den anderen Teilnehmern durch ein orangefarbenes T-Shirt mit dem Logo des Treffens kenntlich machen. »Mein Ukrainerhemd«, wie Vogel sagt. Nach zwei Tagen ist der Erfurter ziemlich frustriert. An der Informationsstelle im zweiten Großraumzelt im Schatten des Doms ist er dafür zuständig, alle Fragen und Wünsche der aus dem gesamten Bundesgebiet angereisten 3 000 Teilnehmer zu beantworten und zu erfüllen. »Wir sind überhaupt nicht in der Lage, Informationen zu geben«, beschwert sich Vogel. »Hier herrscht die absolute Chaosfreiheit!« Ständig fielen angekündigte Veranstaltungen aus, und die Verantwortlichen seien nicht erreichbar. »Ich hab mich an den zuständigen Manager gewandt, der kann allerdings auch nichts machen.«

Tatsächlich ist vielerorts Kritik an der Organisation zu vernehmen. »Um hier überhaupt eine Veranstaltung machen zu können, mussten wir erst einmal 100 Euro und dann noch für jeden von uns den Teilnahmebetrag von 20 Euro bezahlen«, erzählt ein Teilnehmer, der einen Workshop über antirassistische Bewegungen anbietet. Das Ganze sei doch viel zu teuer, wenn noch Kost und Logis sowie die Fahrtkosten dazugerechnet würden.

Andere beschweren sich über fehlende Toiletten, die weiten Wege zwischen den Veranstaltungsorten und die raren Möglichkeiten, günstig zu essen. Ob das Sozialforum auch dazu dienen soll, das Erfurter Gaststättengewerbe anzukurbeln? »Für Erfurt bringt das Ganze gar nichts«, glaubt Vogel.

Ob denn nicht wenigstens die Stimmung für die Unzuverlässigkeiten und Probleme in der Organisation, die er auszubaden habe, entschädigen könne? »Wissen Sie«, sagt er, »da gehe ich lieber zu Rot-Weiß Erfurt, da habe ich richtig Stimmung beim Fußball und kann noch ein Bier trinken. Außerdem, gucken Sie sich doch mal um, hier haben doch viel mehr Menschen lateinamerikanische Ökonomie studiert als die Verhältnisse vor Ort.«

Vielfalt ist möglich

Folgt man diesem Ratschlag und schaut genauer hin, kann man zwar keine politischen oder ökonomischen Präferenzen der Teilnehmer erkennen, dennoch zeigt sich auch im Organisationszelt die große Vielfalt und die heterogene Zusammensetzung der Gruppen. Neben den Tageszeitungen und Stiftungen, die als Kooperationspartner des Sozialforums auftreten, bieten alle möglichen Organisationen ihre Literatur, ihre Publikationen und Heftchen feil. Neben den Anti-Atomaktivisten von X-tausendmal quer stellen Amnesty International, Pax Christi und Linksruck ihre Forderungen. Jede der Gruppen, die an kleinen Tischen logieren, bietet neben der eigenen Wahrheit zudem die eigene Produktpalette an. Oder gleich die Insignien und Ikonen der linken Bewegung der vergangenen Jahre. Da hängt Che Guevara neben Curt Cobain, Metallica-, Totenkopf- und Bob-Marley-Fahnen finden sich dort genauso wie jeder Sticker und jedes Logo, das jemals zu einer politischen Kampagne oder Person entwickelt wurde.

Die Vielfalt dieser Zusammenkunft spiegelt sich dann nicht nur im Titel des Sozialforums wider: »Für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Natur«. Es zeigt sich auch im Programm. Neben den Veranstaltungen der globalisierungskritischen Gruppen wie Attac etwa über »Vorstellungen über die internationalen Netzwerke Steuergerechtigkeit« gibt es die Workshops der lokalen Sozialforen und bildungspolitische Seminare von Stiftungen und Gewerkschaften. Außerdem werden Vorträge, Podiumsdiskussionen und Veranstaltungen zu atomkritischen und friedenspolitischen Themen geboten.

Vier Schwerpunkte hatten sich in der Vorbereitung zum Treffen in Erfurt herauskristallisiert: »Arbeitswelt und Menschenwürde«, »Globalisierung und die Rolle Deutschlands in der Welt«, »Menschenrechte und politische Teilhabe« und »Eine lebenswerte Welt – anders leben«. Auf die Schnelle wurde der Schwerpunkt »Europäische Verfassung« noch aufgenommen.

Man sieht, dass in Erfurt fast jedes Thema vertreten war. Aber, das geben die Grundsätze der Charta von Porto Alegre vor, nicht jeder Anbieter schafft es bis ins Forum. »Gruppen oder Organisationen oder Einzelpersonen, die diesen Kriterien nicht entsprechen (weil rassistisch, antisemitisch, kriegstreibend oder die neoliberale Ordnung verteidigend)« sind als Veranstalter nicht zugelassen, verraten die Richtlinien der Organisatoren des Sozialforums. Die Frage, wie systemstabilisierend die Gewerkschaften sind und ob sie nicht auch die neoliberale Ordnung verteidigen, spielt aber offenbar keine Rolle. Dennoch haben die Veranstalter bei Hunderten von Veranstaltungen offensichtlich den Überblick verloren und sich gar nicht die Mühe gemacht, die Vorgaben aus dem brasilianischen Porto Alegre, wo die Idee der Sozialforen vor vier Jahren entstand, zu überprüfen. Anders lässt sich die Anwesenheit der einen oder anderen skurrilen Vereinigung nicht erklären.

Ein bisschen Gesell

Gleich neben dem Hauptzelt steht eine besonders skurrile Gruppierung. Neben einer riesigen, übermannshohen aufgeblasenen schwarzen Bombe, auf der das Wort »Zinsbombe« prangt, stehen die Mitglieder der Initiative für eine natürliche Wirtschaftsordnung Deutschlands (Inwo). Neben der Bombe hat die Inwo ein Räderwerk auf einen Anhänger montiert, dessen Zahnräder mittels Strom bewegt werden können. Das Ganze soll die Weltökonomie darstellen. »Wir wollen damit die Fehler des Wirtschaftssystems aufzeigen, nachdem das Geldsystem mittels der Zinsen erpressbar wird«, erläutert Markus Fiedler die Analyse der Vereinigung, die in der Tradition von Silvio Gesell steht.

Wer Silvio Gesell ist, der schon mal als »Marx der Anarchisten« bezeichnet werde, wie Fiedler erklärt, was er dachte und wie er wirkte, erfährt der Zuhörer zunächst nicht. Dabei weiß Fiedler genau, was das Problem mit Gesell ist. »Einzelpersonen werfen uns vor, dass wir mit der Zinskritik an die religiös motivierte antijüdische Kritik des Mittelalters anknüpfen, die später von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurde«, sagt er und behauptet, »dass Marxisten dies nutzen, um uns zu diffamieren«. Nicht nur dass Gesell, der Nationalökonom und Vorsitzende des Deutschen Erneuerungsbundes, eine Vorlage für ihre antisemitische Politik gab und sich »mit den Beratern Adolf Hitlers traf, um sich auszutauschen«, wie Fiedler zu berichten weiß. Auch die im sozialdarwinistischen Jargon verfassten Texte Gesells, der eine natürliche Auslese in der Medizin propagierte und seine letzten Lebensjahre in einer Kommune, in der nur Arier zugelassen waren, verbrachte, erschüttern Fiedler nicht in seinem treuen Glauben. »Die Kritiker sollten abstrahieren und Gesell doch schließlich im Kontext seiner Zeit, dem Beginn des 20. Jahrhunderts, lesen.« Dass man auch »Mein Kampf« im Kontext seiner Zeit lesen sollte, sagt er nicht.

Spiritueller Raum

Problematisch geht es auch im Johannes-Lang-Haus zu, einem der vielen Veranstaltungsorte. In dem mittelalterlichen Gebäude, das der evangelischen Kirche gehört, haben sich die Reste der Kommunebewegung und Spiritualisten versammelt. Im großen Saal des Hauses findet die Themenkonferenz unter dem Motto »Anders Leben, besser leben« statt, auf der die Referentinnen und Referenten Manfred Linz, Veronika Bennholdt-Thomsen und Barabara Stützle über Öködörfer, Suffizienz, Subsistenzwirtschaft und indigen-martriachale Gesellschaften und Konzepte referieren. Die etwas älteren Semester sitzen dabei harmonisch beisammen, und in einer Ecke wird sogar gestrickt. »Sowas habe ich ja seit 20 Jahren nicht mehr gesehen«, erzählt Maike Fischer aus Frankfurt, die eigentlich gekommen ist, um den Ausführungen von Linz, dem Wuppertaler Klimaforscher, zu lauschen. Wutentbrannt verlässt sie den Saal. »Das hier ist ziemlich dubios«, meint sie. »Auf der Veranstaltung hat eben eine Vertreterin der in Belzig bei Berlin gelegenen Kommune Zegg gesprochen«, sagt Fischer, »und niemand hat dieses Projekt kritisiert oder ihm widersprochen.« Dabei sei seit Jahren klar, wie sexistisch es dort zugehe, und dass das Ganze in der Tradition des wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger verurteilten Otto Mühl stehe. »Außerdem liegen hier rechtsextreme Flugblätter aus, an denen sich keiner stört«, sagt die Frankfurter Politikstudentin.

»Angesichts der Not der Menschen und aufgrund ihres eigenen Evolutionszyklus ist nun für die Meister die lang erwartete Gelegenheit gekommen, wieder offen in der Welt zu leben und zu arbeiten«, verrät die Gruppe mit dem unscheinbaren Namen »Share international«. Welche Meister? »Seit 1945 wissen die Meister, dass sie schon bald in die Alltagswelt zurückkehren und ihre Aufgaben erfüllen werden«, schreibt die Organisation vieldeutig.

Eine Etage tiefer hat Bernhard Schaekel aus Berlin den »Spirituellen Raum« eingerichtet, damit an einem Ort der Stille und Besinnlichkeit die Möglichkeit bestehe, zu meditieren und zu kommunizieren. »Wir müssen neue Wege des Dialogs finden, um die aggressiven Parolen wie Geld für alle und Macht für niemand zu überwinden«, erläutert Schaekel die Idee. Ganz wohl ist ihm dabei aber auch nicht. »Gestern waren mehrere Mitglieder der Moon-Sekte bei uns und haben mitmeditiert«, erzählt Schaekel. Wobei er bei dem Wort »Moon« die Stimme senkt, offensichtlich hat er Angst, gehört zu werden.

Guten Morgen, Linkspartei!

Dass die Meister der Maitreyas oder der Südkoreaner San Myung Mun die Welt retten werden, darauf wollen sich auf dem Sozialforum dennoch nur die Allerwenigsten verlassen. Mehr Hoffnung wecken da schon die Namen Oskar Lafontaine und Gregor Gysi und deren Projekt der neuen Linkspartei. Obwohl Parteien explizit von dem Forum ausgeschlossen sind, finden sich allenthalben ihre Vertreter. Kein Wunder, dass die Veranstaltung zum Thema »Guten Morgen, Gespenst! Annäherung an das jähe Erscheinen eines Parteiprojekts« der Rosa-Luxenburg-Stiftung so gut besucht ist.

»Es handelt sich hier nicht um Reklame«, bekräftigt der Moderator Rainer Rilling zu Beginn der Podiumsdiskussion mit den Vertreterinnen und Vertretern der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (Wasg), Christine Buchholz, die auch in Linksruck aktiv ist, Ralf Krämer von Verdi, Peter Wahl von Attac und der stellvertretenden Parteivorsitzenden der Linkspartei, Katja Kipping.

Die Frage, was denn neu an der Partei sei, ist schnell geklärt. Zum erstenmal stehe eine gesamtdeutsche linke politische Kraft zur Verfügung, die aus ihrem »Schrebergarten hinausgetreten ist« und die »Neoliberalen das Fürchten lehrt«, wie gegenwärtig überall zu spüren sei, verkünden die Podiumsteilnehmer. Es gebe eine neue Einstellung, »so zusammen zu arbeiten, dass man auch morgen zusammenarbeiten kann«. Wer wie wo arbeitet, scheint indes schon geklärt zu sein. Anders lassen sich solche Sätze nicht erklären: »Wenn ich im Amt bin, werde ich mich so verhalten«, verspricht Christine Buchholz. »Ich will da rein«, sagt Ralf Krämer über den Bundestag.

Auch strategisch scheinen sich die Mitglieder der Wahlalternative und der PDS weiterentwickelt zu haben. »Ich würde gerne von euch wissen, was wir 2009 machen, gehen wir wieder mit der SPD ins Bett? Oder nicht?« fragt ein Teilnehmer aus dem Publikum. Das seien nur Spekulationen, heißt es zweideutig. Nur wenige kritische Stimmen sind zu vernehmen. Eine Frau aus Berlin beklagt die »Two-Man-Show« und die Geschlechterpolitik in der neuen Partei. Ralf Krämer will mit der Linkspartei verhindern, »dass rechter Populismus stark wird«. Über welche konkreten Schritte und finanziellen Zuwendungen sich die Basisgruppen im Falle eines Wahlsiegs freuen dürften, wird indes diskret verschwiegen.

See you in Heiligendamm

Überhaupt, die Basis! Nur an wenigen Orten wie »beim Sozialforum von Unten«, im »Open Space« mit angeschlossenem »Direct Action-Raum« hat man das Gefühl, mit ihr zu tun zu haben. Im Stadtbild sind die Aktivisten nicht präsent, der Kontakt mit den Erfurtern kann nicht hergestellt werden. Die Angereisten blieben unter sich.

Das soll in zwei Jahren beim geplanten Protest gegen den G 8-Gipfel in Heiligendamm an der Ostsee anders werden. »Niemand von uns geht davon aus, dass wir im Frühsommer 2007 an der mecklenburgischen Ostseeküste die Welt entscheidend verändern werden, aber wir wissen, was Tage der Bewegung leisten können«, heißt es in einem Aufruf. Bleibt also nur, auf Besserung zu hoffen. In Erfurt ist von Veränderung wenig zu spüren.