Sozial demontiert

Weil die Belastungen am Arbeitsplatz und im Alltag wachsen, werden immer mehr Menschen psychisch krank. von martin kröger und ulrich schomburg

Alltag für viele: Getuschel auf den Fluren. Türen fallen schnell ins Schloss. Aufgaben ohne Sinn und Verstand. Die Festplatte gelöscht. Die geliebte Zimmerlinde gefällt. Die Gespräche verstummen. Zufall? Einzelfall? Keineswegs!« So beginnt ein Text über Eindrücke aus der Arbeitswelt, die derzeit in der Deutschen Arbeitsschutzausstellung (Dasa) in Dortmund gezeigt werden. In der Ausstellung mit dem Titel »Wenn keiner grüßt und alle schweigen« geht es vor allem um das Phänomen des Mobbings.

Nach Schätzungen der Dasa ist jedes Jahr über eine Million Menschen in Deutschland von Demütigungen, Beleidigungen und seelischen Zermürbungen am Arbeitsplatz betroffen. »Die Hemmschwelle, andere psychisch oder physisch anzugehen, ist gesunken«, konstatieren die Ausstellungsmacher. Die Folgen für die Opfer des Mobbing sind drastisch: Demotivation, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Niedergeschlagenheit können unmittelbare Resultate sein; der Verlust des Arbeitsplatzes und die Erwerbsunfähigkeit können langfristig drohen.

Mobbing scheint aber nur eine der Ursachen dafür zu sein, dass psychische Erkrankungen unter den Lohnabhängigen zunehmen. Ende des vergangenen Jahres gab das Bundesgesundheitsministerium zwar bekannt, dass der allgemeine Krankenstand auf einen »historischen Tiefstand« gesunken sei , auf »das niedrigste Niveau seit Einführung der Lohnfortzahlung im Jahre 1970«, und diese Entwicklung setzt sich in diesem Jahr nach Angaben des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido) noch weiter fort. Gleichzeitig werden immer mehr Menschen wegen psychischer Erkrankungen behandelt. Allein für das Jahr 2004 verzeichnet das Wido einen Anstieg solcher Erkrankungen um zehn Prozent. In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Fälle von Depressionen, Angstzuständen und psychosomatischen Leiden in Deutschland nahezu verdoppelt.

»Die Ursachen für diesen dramatischen Anstieg sind nicht endgültig geklärt«, sagt Christian Vetter, der Sprecher des Wido. »Einerseits werden heutzutage sicherlich psychische Krankheiten eher thematisiert und sind keine Tabuthemen mehr, auf der anderen Seite haben sich die diagnostischen Kompetenzen der Ärzte, Psychiater und Psychotherapeuten derart verbessert, dass viel leichter eine psychische Erkrankungen erkannt werden kann«, meint er.

Das sind jedoch nicht die einzigen Gründe, die er für den Anstieg verantwortlich macht. So seien die »Arbeitsdichte« und die »Arbeitsbelastung« in den vergangenen Jahrzehnten angestiegen. »Jeder dritte Arbeitnehmer klagt heutzutage über Hektik und gesteigertes Arbeitstempo im Job«, erläutert er.

Verbunden mit der Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, ergibt sich daraus eine Gemengelage, in der Menschen schneller psychisch krank werden. Heiner Keupp, ein Professor für Sozialpsychologie an der Universität München, glaubt, neben dem psychischen Druck, dem die Lohnabhängigen ausgesetzt sind, ein »allgemeines Klima der ›Demoralisierung‹« ausgemacht zu haben, »das nicht zuletzt den einzelnen den ›Bewältigungsoptimismus‹« raube, »den man benötigt, um mit den Anforderungen produktiv umgehen zu können«.

Keupp vermeidet den Begriff der Erkrankung. Der Anstieg der »psychosozialen Probleme« hänge mit den erhöhten Anforderungen im Alltag, sei es in der Arbeit, in der Beziehung oder in der Familienarbeit, zusammen. »Für das Alltagsmanagement ist ein hohes Maß an materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen erforderlich, über das viele Personen nicht verfügen, sodass die Phänomene des ›Burnout‹ und des ›erschöpften Selbst‹ derartig steigen«, sagt er.

Deswegen sieht er in einer »umfassenden Ressourcenförderung der Individuen« eine Möglichkeit, den gegenwärtigen Entwicklungen entgegenzutreten. Das so genannte Empowerment soll zwar die einzelnen Individuen stärken, aber zugleich auch die sozialen Initiativen fördern und »einzelne Personen darin ermutigen, in Selbsthilfegruppen ihre Probleme gesellschaftlich zu interpretieren und zu bearbeiten«. Professionelle Helfer sollen an diesem Prozess mitwirken, »um kollektive Antworten zu entwickeln«.

»Dem neoliberalen Denken muss ein qualifizierter Gegenentwurf entgegengesetzt werden«, fordert Keupp. »Sollten allerdings die sozialpolitische Demontage und die ungesteuerten Globalisierungsfolgen weitergehen, werden die psychosozialen Lebensbedingungen sich weiter verschärfen«, sagt er voraus. »Die sozialen Demontagekonzepte haben sich in Deutschland bis tief in die Sozialdemokratie hinein ideologisch festgesetzt.«

Auch Erika Zoike, eine Gesundheitsexpertin in der Abteilung Wirtschaft und Statistik beim Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK), vermutet, dass die psychosozialen Probleme weiter zunähmen, denn der alljährliche Gesundheitsreport des BKK kommt zu denselben empirischen Ergebnissen wie das Wido. »Besonders Frauen leiden immer noch doppelt so häufig unter diesen Ursachen wie Männer«, sagt sie. Dass der neue Höchststand von psychischen Erkrankungen in Deutschland mit dem hohen Versorgungsangebot zusammenhängen könnte, wie es das wissenschaftliche Institut der AOK interpretiert, glaubt sie jedoch nicht. »Einen geeigneten Therapieplatz zu bekommen, ist in diesem Land immer noch ein Kunststück.«

Diese Entwicklungen betreffen auch nicht nur Menschen, die eine Arbeit haben. »Gerade Arbeitslosigkeit und das Nichtvorhandensein eines Rahmens, sich mit seiner Arbeitskraft in die Gesellschaft einzubringen, entzieht den Arbeitslosen den Boden«, sagt Zoike. »Vor allem bei alten Menschen stellen wir zuhauf Depressionen fest«, erläutert sie. Dies liege am Bruch familiärer Beziehungen, am Anwachsen der älteren Bevölkerung bei gleichzeitigem Pflegenotstand und der Einschränkung sozialer Betreuung. »Arbeitslosigkeit und Verarmung verschärfen diesen Trend noch«, sagt Zoike.

Betroffen sind nicht nur Frauen, Arbeitslose, Alte, Beschäftigte in stressigen Berufen, wie Sozialarbeiter oder Beschäftigte in Krankenhäusern, oder Menschen, die im Niedriglohn- und Dienstleistungssektor tätig sind. Auch unter jungen Menschen verzeichnen die Betriebskrankenkassen immer mehr psychische Probleme, wie etwa Alkoholmissbrauch oder Essstörungen. »Ein Ende dieser Entwicklungen ist überhaupt nicht in Sicht«, sagt Zoike. Worüber sich vor allem die Pharmaindustrie freuen dürfte, denn deren Gewinne wachsen seit Jahren im selben Maß wie die psychosozialen Probleme.