Gute Jungs, böse Jungs

Für Jugendliche am Rande der Gesellschaft Sierra Leones ist der Staat ein Räuber, korrupt und gefräßig. Die Outsider in den Straßen Freetowns haben keine Chance auf Integration. von mats utas (text und fotos)
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Eines Abends hält mich an einem der Checkpoints in Freetown ein Polizist wegen des defekten Frontscheinwerfers meines Autos an. Ihm ist daran gelegen, die Angelegenheit sofort an Ort und Stelle zu erledigen. 5 000 Leone, das sind ungefähr 1,80 Euro, würden dafür reichen; etwas weniger, wenn ich ein Sierra-Leoner wäre. Ich erkläre dem Beamten jedoch, dass ich nicht die Absicht habe, ihm Geld zu geben. Wenn ich eines Vergehens schuldig sei, so würde ich die formellen Prozeduren bevorzugen. Es stellt sich später heraus, dass dieser Weg durch die Instanzen schwierig und zeitaufwändig ist und schließlich vor dem Gericht Freetowns enden wird.

Aber zuerst warte ich ungefähr drei Stunden darauf, dass ich auf dem lokalen Polizeirevier meine Aussage machen darf. Es ist ziemlich offensichtlich, was von mir und anderen Verkehrssündern, die hier versammelt sind, erwartet wird. Wir sollen zahlen, damit unsere Fälle eingestellt werden. Hier auf dem Revier würden es ungefähr drei Euro tun, da es mehr Taschen zu füllen gibt. Doch ich bestehe auf den Formalien und unterzeichne schließlich die Berichte und eine Erklärung, die mich verpflichtet, am nächsten Tag um ein Uhr mittags vor Gericht zu erscheinen. Bei Nichtbeachtung droht eine Strafe von 300 000 Leone, ungefähr hundert Euro und mehr als das Doppelte eines durchschnittlichen Monatseinkommens in Sierra Leone. Außerdem soll ich vor dem Gerichtstermin noch einmal auf der Wache erscheinen.

Weshalb, ist klar. Es ist die nächste Gelegenheit, die Beamten zu bestechen und so die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens zu verhindern. Doch ich lasse auch diese Gelegenheit verstreichen. Einige Autofahrer, die ohne Fahrerlaubnis angetroffen wurden, haben die Nacht in der Zelle verbracht. Einer erzählt mir, dass er sehr wohl eine Fahrerlaubnis besitze, doch Angst habe, sie vorzuzeigen. Das berge nämlich das Risiko, dass das Papier einfach einbehalten und von den Polizisten an einen anderen Fahrer verkauft wird.

Gegen zwei Uhr erreiche ich das Gericht. Dort sitzen Fahrer und Autobesitzer, von denen jetzt einige versuchen, ihre Vergehen durch Zahlungen an die anwesenden Polizeibeamten aus der Welt zu schaffen. Es dauert eine weitere Stunde, dann erscheint der Richter. Sergeant Mellon, der ranghöchste Polizist im Gerichtssaal, legt ihm die Akten vor. Das ist nun die letzte Möglichkeit, mit einem Bestechungsgeld davonzukommen. Auch hier im Gerichtssaal wird die Zahlung von Schmiergeld ohne jegliche Diskretion praktiziert. Manche Autobesitzer wenden sich also an Sergeant Mellon. Der Richter zieht sich nach einiger Zeit in sein Büro zurück. Der Sergeant folgt ihm, Akten und Geld in den Händen. Als er wieder erscheint, erklärt er die entsprechenden Fälle für erledigt. »Case don don«, wie es in Krio, der Lingua Franca Sierra Leones, heißt.

Das Bestechungsgeld, das ich zahlen müsste, beläuft sich nun auf schätzungsweise 40 000 oder 50 000 Leone, ungefähr 14 bis 18 Euro. Mein eigenes Vergehen ist gering. Und schließlich zahle ich 15 Euro Bußgeld, für die ich eine Quittung der National Revenue Authority bekomme. Doch wie viele Sierra-Leoner können es sich leisten, 15 Euro für ein Verkehrsdelikt zu zahlen? Theoretisch müssten alle Verkehrssünder vor Gericht ziehen, denn die Polizei ist nicht autorisiert, Bußgelder zu kassierenen.

Es ist also nicht verwunderlich, dass die Jugendlichen in der Hauptstadt Freetown die Polizei und die Justiz als außerhalb jeder gesellschaftlichen Kontrolle betrachten. Die Polizei gilt generell als legale Räuberbande. Meine laufende Feldforschung in Sierra Leone fokussiert sich auf eine Gruppe junger Männer, die in Downtown Freetown an einem Platz namens Pentagon Autos waschen. Sie sind Teil der so genannten informellen Wirtschaft. Neben dem halb legalen Putzen von Autos überleben sie durch den Verkauf von gestohlenen Waren und Marihuana oder die Vermittlung von Treffpunkten, an denen Prostituierte und ihre Kunden ungestört sind. Für sie sind der Staat und die Regierung nichts als Diebe.

Sisco ist einer von denen, die am Pentagon Autos putzen. Von hier aus sieht man auf einem der Hügel das Parlamentsgebäude, das in den Straßen von Freetown zu einiger Verstimmung Anlass gibt. So sieht einer der Pentagon-Leute das Parlament: »Sieh dir dieses Gebäude an! Sieh auf die Taschen, die dort draußen dran sind, da lagern sie das Geld, das sie den Leuten stehlen.« So wird die Staatsmacht von marginalisierten Jugendlichen und den meisten einfachen Leuten im Freetown dieser Tage gesehen. Für sie sind die Angestellten des Staates Teil einer »indirekten privaten Regierung«, deren Parlamentarier, Politiker, Beamte und Sicherheitskräfte auf Kosten der Einwohner leben. In der Regierung zu sein, bedeutet, von den Menschen essen zu können (»to chop«), wie es in einer populären Redeweise heißt.

Viele Sierra-Leoner sehen ihr Land in einer graduellen Loslösung von der modernen Welt begriffen. In gewissem Maße werden der Kolonialismus und die postkolonialen politisch-wirtschaftlichen Gegebenheiten für das Versagen des Staates und der Verwaltung verantwortlich gemacht. Doch für einfache Bürger ist vor allem die Gier der einheimischen Politiker und Geschäftsleute an der Entkoppelung Sierra Leones von einer imaginierten Modernität schuld. Der natürliche Reichtum des Landes, der vor allem im hohen Diamantenvorkommen liegt, würde nach Auffassung vieler für alle Bürger reichen. Der Wohlstand für alle wird aus dieser Sicht nur durch die Gefräßigkeit der wenigen Reichen verhindert. Sowohl in den Augen der jungen Männer in den Straßen von Freetown als auch der Mehrheit der auf dem Lande Lebenden sind die »Borbor Beles« für den sozialen und wirtschaftlichen Niedergang des Landes verantwortlich.

Auf Krio heißt »Borbor« Junge, und »Bele« ist der Bauch. Der Borbor Bele ist der Junge mit dem dicken Bauch, der zu viel isst, Alter unerheblich. Vor kurzem wurde der Begriff Borbor Bele durch den Musiker Emmerson populär. Auf seinem Album finden sich Songs, die das politische System Sierra Leones scharf kritisieren. Es erfreut sich großer Beliebtheit im ganzen Land. Dem Text auf dem Cover der CD zufolge ist ein »Borbor Bele ein korrupter Beamter oder Angestellter einer Nichtregierungsorganisation, der öffentliche Ressourcen stiehlt«. Seit der Veröffentlichung von Emmersons Album hört man die Leute immer öfter klagen über die Borbor Beles und ihren dekadenten Lebensstil.

Neben dem Borbor Bele gibt es aber auch den Borbor Pain. Der Borbor Pain leidet unter dem leonischen Staat. Vielleicht ging Borbor Pain zur Schule, vielleicht war er sogar einer der Besten dort. Doch es nutzt ihm nichts. Borbor Pain ist der Spitzname für all jene Jungen, die sich auf den Straßen durchschlagen müssen, die Leidenden. Borbor Pain hat keine feste Arbeit und keine Aussicht, je eine Frau zu heiraten. Und falls er Kinder hat, kann er für sie nur schlecht sorgen. Wenn Borbor Pain Ärger mit dem Gesetz bekommt – was ganz sicher irgendwann der Fall ist, ob er etwas Verbotenes tut oder nicht –, wird er von der Polizei verprügelt. Wenn er vor Gericht gestellt wird, hat er wenige Möglichkeiten, eine faire Verhandlung zu bekommen.

Borbor Pain ist natürlich nicht zufrieden mit seiner sozialen Lage und strebt nach Besserem. Individuelle Wege des Aufstiegs gibt es nur wenige, und die sind erbittert umkämpft. Die einzigen Aufstiegsmöglichkeiten für Borbor Pain sind Sport, Musik, Migration und Gewalt. Letzteres konnte in der jüngsten Geschichte Sierra Leones durch einen Beitritt in die Armee, die Verteidigungsmilizen oder Rebellengruppen verwirklicht werden.

Am Stand Nummer sieben ist die Stimmung äußerst gespannt, Schwaden von Marihuana liegen in der Luft. Muhamed Kallon, Sierra Leones beliebtester Fußballspieler, bereitet sich gerade auf einen Strafstoß gegen die Mannschaft Guineas vor. Das Freundschaftsspiel gegen das Team aus dem Nachbarland füllt das Stadion. Fußball ist in Sierra Leone äußerst populär. Die Straßenkinder am Stand sieben sehen die Karriere Kallons als beispielhaften Ausweg aus der Armut. Er stammt aus einer armen Familie und schießt heute für den französischen Club AS Monaco die meisten Tore. Eine Gruppe von jungen Leuten in Freetown kleidet und verhält sich in einer bestimmten Art, die ihre Distinktion von der Mainstream-Jugendkultur anzeigt. Sie sind Fußballer, die ihre Träume von Prominenz und Wohlstand durch herausragende Leistungen im Stadion wach halten.

Die heute populärste Musik in Sierra-Leone wird von Sierra Leonern gemacht. Zumindest in Freetown gilt Musik als ein Weg zur Überwindung der Grenzen zwischen Borbor Pain und Borbor Bele. Aik und 2Jay – beziehungsweise Ibrahim und Junior, wie sie mit bürgerlichen Namen heißen – haben gerade ihr erstes Album aufgenommen. Beide schlossen eine der besten High Schools des Landes mit guten Zeugnissen ab und haben dennoch wenig Hoffnung auf einen annehmbaren Job. Reimen im HipHop-Style ist ihre Hoffnung. Wie die meisten anderen Gruppen beeinflusst sie US-amerikanische Musik, aber sie singen in Krio und mischen ihre Beats mit lokalen Rhythmen. Aik und 2Jay singen über Liebe, Täuschung, blockierte Aufstiegsmöglichkeiten für die Jungen und den Niedergang Sierra Leones.

Ein ganzes Genre von systemkritischen Songs klagt die korrupte Politik in Sierra Leone an und fordert den Wandel. Einige sehen dies als eine Revolution mit dem Mikrofon statt mit der Waffe. Die Jungle Leaders zum Beispiel rappen: »De system, de system e morna we.« (Das System bereitet uns Ärger.) Ein anderer Refrain lautet: »Wutete, Wutete – Salone de tete.« »Wutete« heißt »reichlich« und ist der Spitzname des Präsidenten Tejan Kabbah, den er für seine übergroßen Versprechungen während des Wahlkampfs erhielt. »Salone« – Krio für Sierra Leone –, so sagte es das Lied, kriecht wie ein Baby (»de tete«). Doch die Jungle Leaders werden neuerdings von einem ehemaligen Minister und Mitglied der regierenden SLPP gemanaged und ihr neuestes Album ist politisch lahm – befriedet, könnte man sagen.

Die Abwanderung in die Diamantengebiete gehört zu den traditionellen Lebenswegen der Jungen. Die meisten Männer hatten irgendwann etwas mit dem Diamantenhandel zu tun, oft auf unterster Stufe, als »San-San-Boys«, also Gräber und Wäscher. Diese Form von Arbeitsmigration ist von einer Aura umgeben, die schnellen Reichtum und Glück verspricht. In der Realität handelt es sich um extrem harte Arbeit für ein minimales Einkommen. Der erträumte Überfluss bleibt eine Wunschvorstellung, doch das Ausbrechen aus den sozialen Systemen steht für begrenzte Unabhängigkeit von oft erdrückenden Familienbindungen. Die gleichen Ideale finden sich in den Migrationsgeschichten derjenigen, die in den Norden Europas auswandern und auch in den Erinnerungen junger Kämpfer, die auf dieser oder jener Seite am Rebellenkrieg beteiligt waren.

Skin Mercy läuft die Berwick Street entlang, in der einen Hand hält er ein Pega-Pack (einen kleinen Plastikbehälter mit Schnaps), in der anderen einen Joint. Skin ist ein hart arbeitender Typ. Er stammt aus einem nahen Slumgebiet, das »Jamaica« genannt wird. Arme Eltern, keine Ausbildung, und kein stabiles Einkommen. Für Leute wie ihn fallen soziale Navigation und Widerstand gegen den Staat zusammen.

Die Pentagon-Jugendlichen sind politischer Gewalt gegenüber aufgeschlossen, wenn sie einen direkten persönlichen Nutzen darin sehen. Sie streben eine Balance des Terrors mit der nahe gelegenen Polizeiwache an, deren Beamte hier sowohl Razzien durchführen als auch Drogen kaufen. Polizisten, die Ärger machen, werden mit dem Tode bedroht, und Pentagonier, die Ärger machen, werden ins Gefängnis geworfen. Die Kommandostrukturen der Kriegsjahre sind nach wie vor präsent, Militärregierungen werden verehrt. Viele Pentagonier meinen, es bräuchte einen neuen Krieg, um die Borbor Beles ein für allemal loszuwerden.

Sisco, der Autowäscher, nennt sich nach einem US-amerikanischen Rapstar. Früher hieß er mal Tupac, dann Eminem, irgendwann einmal Scorpion. Britische und US-amerikanische Flaggen bilden wichtige Symbole für die Jugendlichen Freetowns, doch es gibt auch andere machtvolle Zeichen, die Widerstand signalisieren sollen. Das Gesicht von Ussama bin Laden im Zimmer meines Freundes Turkish zählt dazu. Die Symbole des Staates Sierra Leone hingegen gelten wenig.

In ganz Freetown finden sich so genannte Ghettos, in denen Jugendliche Marihuana rauchen und Palmwein oder Rum trinken. Die Pentagonier besuchen die Ghettos regelmäßig. Hier rauchen sie sich nicht nur stoned, sondern halten sich auch auf dem Laufenden, was in der Stadt so los ist, diskutieren über Politik und schließen Bekanntschaften, die sich für ihr eigenes Überleben und ihren sozialen Aufstieg vielleicht als wichtig erweisen können. Ghettos werden nicht nur von marginalisierten Jugendlichen besucht, manchmal finden auch prominente Besucher den Weg hierher.

Das berüchtigte Ghetto in der Lumley Street im Stadtkern von Freetown wurde ungezählte Male geräumt und hätte einen langen Eintrag in Sierra Leones Kriminalakten, wenn es diese Besucher nicht gäbe. Anfang Mai gab es dort eine Razzia. Unter denen, die in der Lumley Street verhaftet wurden, war auch der Sohn des Präsidenten Tejan Kabbah. In den Straßen von Freetown sind die Drogengewohnheiten des Präsidentensohnes weithin bekannt. Einer meiner Mitarbeiter musste einmal ein Interview mit einer jungen Prostituierten unterbrechen, weil Kabbah Junior sie rief und Drogen kaufen schickte. Natürlich stören sich die Sufferers nicht am Drogengebrauch des jungen Kabbah, schließlich halten es die meisten von ihnen ähnlich. Sie stören sich an der Straflosigkeit, die er genießt. Er ist eben ein Borbor Bele, geschützt vom System, sie sind die Borbor Pains, gejagt von eben diesem.

übersetzung: ruben eberlein

Mats Utas ist Forscher am Nordic Africa Institute in Uppsala, Schweden, und lehrt derzeit als Senior Lecturer am Fourah Bay College der Universität von Sierra Leone.