Den Alltag politisieren!

Was die Linkspartei durchsetzen kann, wird außerhalb des Parlaments entschieden. von miltiadis oulios

Ist das Bedürfnis zu reden gestillt, wird die Bereitschaft zur Untätigkeit erhöht«, räsonnierte Johannes Agnoli vor 38 Jahren in seinem Buch »Die Transformation der Demokratie«. Die Integration der Unzufriedenen mittels einer linken Partei festige den Kapitalismus. Solange die arbeitenden Massen noch an »ihren« Parteien festhielten, ließen sich »Rebellionsgefühle gegen die bürgerlich-kapitalistische Herrschaft« neutralisieren.

Die Herrschenden der Berliner Republik müssten sich zur Zeit riesig freuen. Gäbe es keine Linkspartei in Deutschland, müssten sie eine erfinden. Denn über frühere PDSler und linke Sozialdemokraten aus der Wasg wird zur Zeit so viel geredet wie schon lange nicht mehr. Und es könnte passieren, dass am 18. September eine fünfte Partei im deutschen Bundestag sitzt. Und danach passiert nicht mehr viel.

Doch wir schreiben weder das Jahr 1967 noch 1977. Heute gibt es, anders als in den sechziger und siebziger Jahren, keine nennenswerten Bewegungen, die von einer linken Partei vereinnahmt, institutionalisiert und stillgelegt werden könnten. Sicher, ohne die Demonstrationen seit dem November 2003 wäre es nie zur Gründung der Wasg, nie zu einer Vereinigung mit der PDS und nie zu zweistelligen Wahlprognosen für die Linkspartei gekommen. Doch die Proteste gegen Hartz IV ebbten von selbst ab. Sie überwanden weder ihre Opferrhetorik noch ihren teilweise deutschtümelnden Charakter. Sie führten auch nicht zu einer Politisierung des Alltags. Müßig sind daher die Diskussionen, die derzeit unter Linken geführt werden. Selbstverständlich ist die Linkspartei nicht im Ansatz revolutionär. Dank Lafontaines Anbiederung an rassistische Wähler auch nicht immer fortschrittlich oder links.

Dennoch: Die Linkspartei hat den Diskurs über die Legitimität und die Möglichkeiten der Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums geöffnet. Bisher hieß es einhellig: »Das Soziale ist nicht finanzierbar«, und zur Deregulierung gebe es keine Alternative. Auf einmal aber sind alle aufgescheucht.

Der neue Diskurs über das Soziale in Deutschland verleiht dem Unbehagen Ausdruck und dem Glauben, dass Politik immer noch gemacht werden könne. Davon können soziale Bewegungen nur profitieren. Denn beides sind Grundvoraussetzungen auch für Kräfte, die Kapitalismus und Herrschaft grundsätzlich in Frage stellen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Die Linkspartei verspricht, kurz gesagt, Vermögen, Gewinne und hohe Einkommen stärker zu besteuern. Mit dem eingestrichenen Geld will sie Sozialleistungen erhöhen, Jobs im öffentlichen, kommunalen Sektor schaffen und dadurch die Binnennachfrage ankurbeln. Aber wie will sie an das Geld der Reichen herankommen?

Bis in die siebziger Jahre zu Zeiten des klassischen Sozialstaats basierte die gesellschaftliche Gegenmacht im konkreten Zugriff auf die Produktionsmittel und die Politisierung der Reproduktion. Der Druck erzwang die Zugeständnisse des Kapitals. Doch wer heute streikt, wird verlagert. Wer sich derzeit der Leistungsgesellschaft nicht unterwerfen will, bleibt eben arm. Immaterielle Fähigkeiten sind heute wichtiger als Massenarbeiter und Maschinen. Siemens könnte sonstwo seine Handys bauen. Entscheidend für die Profitmaximierung sind wenige qualifizierte Mitarbeiter, denen einfällt, was man noch mit dem Ding anstellen kann, außer zu telefonieren. Das schafft ein Dilemma. Denn eine linke Partei könnte noch so radikal reden, sie kann sich nur durchsetzen, wenn ihr Machtmittel zur Verfügung stehen. Außerhalb der Parlamente. In der sozialen Revolte. Auf der Straße.

Statt sich auf Aneignungsprozesse bei Sozialleistungen und Migration positiv zu beziehen, um die politische Präsenz dieser Begehren zu stärken, spielt die Linkspartei die Rächerin der kleinen Leute. Die können sich aber selbst wehren. Fast anderthalb Millionen Menschen mehr haben das neue Arbeitslosengeld II beantragt, als Hans Eichel erwartet hat. Ich-AGs und Vermittlungsgutscheine seien zu einem neuen »Betätigungsfeld für Fördergeldtrickser« geworden, ärgerte sich der Spiegel kürzlich. Eine postfordistische Linke wird nicht umhinkommen, sich auf solche Alltagskämpfe zu beziehen. Ihre politische Repräsentation kann diese Kämpfe politisieren und verstärken. So ließe sich die Gesellschaft verändern.

»Wir wollen eine starke Linkspartei, die nicht nur auf Parlamentsbänken, sondern breit in der Bevölkerung verankert ist«, schreibt die Wasg in ihrem Wahlmanifest. Man sollte sie beim Wort nehmen.

Der Autor ist Mitglied von Kanak Attak