Elvis statt Haubitzen

In der Nähe des oberpfälzischen Ortes Grafenwöhr liegt der größte Truppenübungsplatz der US-Army in Europa. Einst übte hier die Wehrmacht. Kein schöner Land V. von jan süselbeck

Das Donnern der Geschütze kann man im weiten Umkreis hören. Grafenwöhr ist in der ganzen Oberpfalz bekannt, und sogar darüber hinaus. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die US-Army die Nutzung des Truppenübungsplatzes in der Nähe des heute knapp 7 000 Einwohner zählenden Ortes, errichtete Wohnhäuser, Einkaufszentren und Freizeiteinrichtungen für die Armeeangehörigen, sodass eine kleine amerikanische Stadt in Bayern entstand.

Bis ins Jahr 2008 plant die US-Army weitere 648,8 Millionen Euro in den Standort zu investieren. Das Pentagon habe dafür mehr Geld bewilligt, »als für irgendeine andere militärische Einrichtung außerhalb der USA«, betont der Bayerische Rundfunk. Nach wie vor ist das 234 Quadratkilometer umfassende Lager der größte Arbeitgeber und wichtigste Wirtschaftsfaktor in der Region.

Zuletzt geriet Grafenwöhr jedoch in die Schlagzeilen, weil die NPD eine Tennishalle im Ort kaufen wollte, offenbar um ihre bayrische Landeszentrale dorthin zu verlegen und Parteitage, Konzerte oder sonstige Veranstaltungen abzuhalten. Doch daraus wurde nichts, weil die Stadt von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch machte und die Tennishalle selbst erwarb.

Auf verschiedenen Internetseiten, die die Geschichte des Truppenübungsplatzes erläutern, wird man stolz daran erinnert, dass auch die Bundeswehr bereits seit 1956 wieder auf dem Gelände mittrainieren darf. Mehr noch, die US-Army darf seit der Wiedervereinigung eine »Intensivierung und zeitliche Ausweitung der Schießtätigkeit nur noch mit Genehmigung des deutschen Bundesverteidigungsministeriums« vornehmen, kann man auf der Homepage der Stadt nachlesen.

Die Geschichte des Truppenübungsplatzes aber reicht noch weiter zurück. Bereits vor rund 100 Jahren wurde das damalige Bayerische Kriegsministerium auf das sumpfige Umland Grafenwöhrs aufmerksam, und im Jahr 1910 eröffnete man den »Königlich Bayerischen Schießplatz« mit einem ersten Schuss aus der Feldhaubitze, nachdem man zuvor Menschen aus mehreren Ortschaften mit skurrilen Namen wie Erzhäusl, Gründhunder Schmierhütte oder Wolfslegel umgesiedelt hatte. 1913 wurde die erste Garnison für das 3. Bayerische Feldartillerieregiment »Prinz Leopold« eröffnet.

Eines der wichtigsten Zentren deutschen Militärunheils nahm seinen Betrieb auf. Im Ersten Weltkrieg richtete man in Grafenwöhr das größte Kriegsgefangenenlager Bayerns ein, in dem zeitweilig 23 600 Menschen inhaftiert waren. 757 Gefangene starben hier während des Kriegs.

Nach dem Versailler Vertrag war es Deutschland verboten, Manöver mit schweren Waffen oder gar Artillerie abzuhalten. Einer der wenigen Plätze, auf denen die Restmannschaften der Reichswehr dennoch weiter den Krieg übten, war der Truppenübungsplatz Grafenwöhr. Bereits im Jahr 1925 führte das deutsche Militär hier wieder größere Manöver durch, und in den dreißiger Jahren brachte die Rüstungsindustrie der Nationalsozialisten der Stadt einen messbaren wirtschaftlichen Aufschwung.

Zwischen 1936 und 1939 wurde der Truppenübungsplatz nochmals erweitert. 57 Ortschaften mussten dem Militär weichen, was die flugs gegründete nationalsozialistische »Reichsumsiedlungsgesellschaft« (Ruges) besorgte, damit der unmittelbar bevorstehende Zweite Weltkrieg auch gebührend geprobt werden konnte. 3 500 Menschen, meist Bauernfamilien, wurden kurzerhand umgesiedelt und mit insgesamt 20 Millionen Reichsmark entschädigt. 1939 hielt man auf dem vergrößerten Platz ein Manöver ab, in dem 100 000 Soldaten mit 14 000 Pferden aufmarschierten.

1944 kam der italienische Duce Benito Mussolini höchstpersönlich mit dem deutschen Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel zu Besuch nach Grafenwöhr, um die rund 12 000 Mann umfassende italienische Division »San Marco«, die der Wehrmacht beistehen sollte, von hier aus an die Front zu schicken. Grafenwöhr wurde zum Ausbildungszentrum europäischer Hilfstruppen Adolf Hitlers. Hier schwor man die spanische »Blaue Division« ein, bevor sie nach Russland abmarschierte, genauso wie die aus norwegischen und dänischen Regimentern gebildete freiwillige 11. SS-Panzerdivision »Nordland«. Anfang 1944 wurde zudem General Heinz Wilhelm Guderians »Arbeitsstab Panzer« nach Grafenwöhr verlegt, der Umschulungen und Auffrischungen von Panzerverbänden organisieren sollte, die an der Front aufgerieben worden waren.

Am 5. und 8. April 1944 bereiteten amerikanische Bomberverbände der Ausbildungsfestung der Nationalsozialisten, die mit drei Millionen gebunkerten Gasgranaten und Bomben nebenbei das größte Giftgaslager des »Dritten Reichs« war, endgültig ein Ende. Auch die »Kampfgruppe Grafenwöhr«, die sich den vorrückenden US-Truppen als letzter Wehrmachtsverband entgegenstellen sollte, wurde schnell besiegt und entwaffnet.

Welche große symbolische Bedeutung der Truppenübungsplatz für die Nationalsozialisten hatte, belegt ein obszönes Objekt, das die amerikanischen Soldaten sprengten, bevor sie Grafenwöhr für ihre Zwecke in Besitz nahmen. Die Rede ist vom »Eisernen Gustav«, auch »Dora« genannt, dem »größten Geschütz aller Zeiten«. Dieser riesenhafte Stahlphallus hatte eine Rohrlänge von 42,48 Metern, ein Gewicht von 1 350 Tonnen und sollte 4,72 Tonnen schwere Granaten angeblich 47 Kilometer weit schießen. »Gustav« kam jedoch nur einmal vor Sewastopol zum Einsatz, wobei insgesamt 3 500 Mann zur Bedienung des monumentalen Apparats nötig waren. Danach brachte man das unpraktische Symbol deutschen Größenwahns nach Grafenwöhr, wo es offenbar weniger konkreten militärischen Zwecken diente als der Beeindruckung auszubildender Rekruten.

In den folgenden Jahrzehnten kam eine etwas andere Art von Militär nach Grafenwöhr, unter anderem mit einem Soldaten namens Elvis Presley, der 1958 dort stationiert wurde und die jungen Leute der Umgebung begeisterte. Die Soldaten importierten nicht nur den Rock’n’Roll, sondern auch Kaugummis und ein Lebensgefühl, das bis heute ein bisschen Abwechslung in die provinzielle Gegend rund um Grafenwöhr bringt.