Mission der Multitude

Über das paradoxe Unterfangen, Religion und Toleranz miteinander zu vereinbaren. von horst pankow

Ein derzeit im katholischen Polen kursierender Witz geht so: »Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs unweit der Kleinstadt Wadowice hat ein junger deutscher Soldat auf einen polnischen Zivilisten angelegt. Kurz bevor sein Finger sich um den Abzugshebel krümmt, erscheint ein Engel des Herrn und spricht: ›Töte ihn nicht, oh Deutscher, dieser Mann soll nach dem Ratschluss des Allmächtigen dereinst Papst werden.‹ ›Ich will ihn verschonen‹, antwortet darauf der junge Soldat, ›aber wäre es möglich‹, fügt er mit demütigem Blick hinzu, ›dass ich sein Nachfolger werden könnte?‹«

Im postprotestantischen Deutschland ist so viel Witz derzeit nur als unfreiwilliger zu erwarten, etwa wenn die dpa zwei Tage vor dem Besuch Benedikts XVI. meldet: »Es ist das erste Mal seit 500 Jahren, dass ein deutscher Papst in die Heimat reist.« An die protestantische Staatskirche des wilhelminischen Deutschland und deren »Kulturkampf« gegen den rheinischen Katholizismus erinnert heute nur noch der Name der Hohenzollernbrücke in Köln, jener informellen Hauptstadt der deutschen Esoteriker-Multitude, die gleichwohl vom Vatikan zum Schauplatz des katholischen »Weltjugendtags« erkoren wurde. Respektlosigkeit, so scheint’s zumindest, gilt heutzutage nicht nur in Köln als Sünde wider die eherne Toleranz, das höchste Gebot der strengen Göttin Multikulturalität.

Unter ihrem unnachgiebigen Blick kann kein Abweichler auf Gnade und schnelle Vergebung hoffen. Auch nicht, wenn er Partei- oder Polizeichef ist. Im April hätte der CDU-Landeschef von Nordrhein-Westfalen und heutige Ministerpräsident des Bundeslandes, Jürgen Rüttgers, in einer Fernsehtalkshow sich beinahe um Kopf und Kragen geredet: »Ich glaube, dass wir wieder lernen müssen, dazu zu stehen, dass wir etwas für wahr und etwas für unwahr halten. Ich bin Katholik und ich glaube, dass unser christliches Menschenbild das Richtige ist und nicht vergleichbar ist mit anderen Menschenbildern, die es anderswo auf der Welt gibt.« Auf Nachfrage bestätigte er, sein Menschenbild auch für »überlegen« zu halten. Eigentlich nichts Bemerkenswertes, denn warum sollte der gute Mann Katholik sein, wenn er andere Menschenbilder für überlegen oder zumindest genauso richtig hielte. Eine Welle öffentlicher Empörung zwang Rüttgers, kleinlaut zu beteuern, er habe keinesfalls den »Eindruck einer Abwertung anderer Religionen« erwecken wollen.

Kölns stellvertretender Polizeichef Dieter Klinger ist zwar kein Katholik, doch gehört er der protestantischen Minorität der Baptisten an und nimmt insofern auch die Fähigkeit, zwischen Wahrem und Unwahrem zu unterscheiden, in Anspruch. Am 9. April war er auf einem »Osterempfang der christlichen Kirchen« in Emden als Vortragsredner zum Thema »Chancen und Bedingungen für ein Miteinander der Kulturen« in Erscheinung getreten. Interpretiert man die zumindest tendenziösen Presseberichte über seinen Vortrag richtig, dann lieferte er den Stein des späteren Anstoßes durch eine offenbar detaillierte Schilderung der antizivilisatorischen Gepflogenheiten islamischer Parallelgesellschaften in diesem Land. Christliches kam natürlich nicht zu kurz, als besonders skandalös (»Untergang des christlichen Abendlandes«) zitiert die taz den Satz: »Was soll ein Christ einem in seinem Glauben stark verwurzelten Moslem entgegenhalten?« Der fromme Polizist schlussfolgerte, das Christentum müsse seinen »missionarischen Aspekt« wieder in den Vordergrund rücken, und beschloss seinen Vortrag als Beamter – in den Schulen sollten verstärkt christliche Werte vermittelt werden. Auch hier nichts Bemerkenswertes: Seine Schilderung der islamischen Parallelgesellschaften scheint zutreffend zu sein, und dass er als Christ missionieren möchte – wer mag’s ihm ernsthaft verübeln. Eine Religion – zumal eine monotheistische, deren Gott nicht nur die Erschaffung der Welt, sondern auch ihre fortwährende Gestaltung für sich reklamiert – ist nun mal auf Ausbreitung bis zum sprichwörtlichen Sankt-Nimmerleins-Tag verwiesen. Darüber ist selbst die historisch wirkungsmächtigste und im Wortsinne »totalitärste« Religion nicht erhaben: Der moderne Kapitalismus beschäftigt als Politiker, »Wissenschaftler«, Medienfuzzis und gewöhnliche Mitläufer mehr Missionare, als alle religiöse Unvernunft in der Geschichte jemals hätte aufbieten können.

Nichtsdestotrotz wurde Polizeivize Klinger von einer hysterisch-aggressiven Öffentlichkeit gezwungen, seine Karriere durch einen demütigenden »offenen Brief« zu retten, in dem er »zutiefst bedauert«, dass seine »Aussagen ausländerfeindlich interpretiert wurden« und ihn in Verdacht gebracht hätten, den säkularen Frevel der »Islamophobie« zu befördern. Die Göttin Multikulturalität ist unnachgiebig, den Nachgiebigen und öffentlich Bußfertigen jedoch gewährt sie bereitwillig Ablass.

Einen solchen gewährt auch Papst Benedikt XVI. den TeilnehmerInnen des Kölner Weltjugendtages – einlösbar freilich erst im Leben nach dem Tode. Voraussetzungen für solcherart Wechsel auf ewige Glückseligkeit seien, sagt ein Vatikansprecher, Beichte, entschlossene Abkehr von allen Sünden, Kommunionsempfang und Gebete. Auch virtuelle Pilger via Internet und Fernsehen könnten einen »Teilablass« beanspruchen. Lächerlicher Schnickschnack einer beliebigen Richtung der deutschen Esoteriker-Multitude, möchte man meinen, und Spott darüber wird hierzulande wohl auf weniger Ablehnung stoßen als eine ironische Kommentierung der Taten islamischer »Märtyrer« (im Klartext Massenmörder) mit ihren Paradiesvorstellungen von den 72 Jungfrauen.

Als bayerischer Kardinal galt der heutige Papst der Mehrheit deutscher Kommentatoren als antiquierte Unperson: Seine durchaus klarsichtige Unterscheidung zwischen wahrem (katholischem) und weniger wahrem (protestantischem) Christentum, die törichte Ablehnung weiblicher Priesterschaft und das integrative Beharren aufs Zölibat machten den aus plebejischen Verhältnissen stammenden Josef Ratzinger zum höchst verdächtigen Partikularisten. Das scheint fürs Erste beendet zu sein: »Aus dem Dogmenhüter ist ein freundlicher alter Herr geworden«, frohlockt der Spiegel. Die Bild-Zeitung schließt an den eingangs erzählten polnischen Witz an, indem sie des Papa Ratzis nationalen Gebrauchswert offenbart: »Nie wieder wird es einen Mann geben, der beides trug: das Braunhemd der Hitlerjugend und das weiße Gewand des Heiligen Vaters.«

Die live übertragene Schiffsfahrt des Pontifex auf dem Rhein war zweifellos für jede/n Freund/in filmischer Parallelwelten ein Genuss. Nicht wenige Sequenzen erinnerten – bewirkt durch die Gunst von Lichtverhältnissen, Kulissen, Personal und Kostümen – an Filme von Andrej Tarkowski, Bernardo Bertolucci und Brian de Palma. Es hätte mehr daraus entstehen können, war der einhellige Kommentar der mitglotzenden Cineasten, wenn ein kompositorisches Genie wie Jean-Luc Godard den Schnitt übernommen hätte. Nur was die personifizierte Katholizität dem islamischen »Ihr liebt das Leben, wir den Tod« wirklich entgegenzusetzen hätte, blieb an jenem Spätnachmittag ungeklärt.