Atatürk statt Marx

Der Nationalismus ist das Bindeglied zwischen Linken und Rechten in der Türkei. von ertugrul kürkçü

Türkensohn, Türkentochter, bewahre dein Türkentum!« So lautet der Titel der aktuellen Ausgabe der Monatszeitschrift Türk Solu (»Türkische Linke«). Sie vertritt die These, das »kurdische Problem« leite sich aus der Gefahr einer »Kurdisierung der Türken« ab, und schlägt Maßnahmen vor, die an das Vorgehen der Nationalsozialisten gegen die Juden erinnern: »Kauft bei Türken ein, nicht bei Kurden«, »Hört keine kurdische Musik«, »Vermehrt euch als Türken untereinander«.

Nazım Hikmet, Deniz Gezmis und Che Guevara sind die wichtigsten Ikonen dieser Zeitschrift. Dennoch bringt sie es fertig, Rassismus und Ultra-Nationalismus mit dem Ausdruck »links« zu verknüpfen. Doch die Türk Solu ist weder aus der marxistischen oder sozialistischen Tradition in der Türkei hervorgegangen noch setzt sie diese fort.

Die 1961 gegründete Arbeiterpartei der Türkei (Tip) war die erste Partei, die sich »links« nannte, in einem Land, in dem die Gründung einer kommunistischen Partei verboten war. Ismet Inönü, der zweite Staatspräsident und frühere Waffengefährte des Staatsgründers Mustafa Kemal, hat den Begriff nach den Wahlen von 1965 gesellschaftsfähig gemacht, als er seine Republikanische Volkspartei (CHP) als »links von der Mitte« bezeichnete. Bei den Wahlen von 1965 erlangte die Tip mit ihrem erklärten Ziel, eine »sozialistische Türkei zu gründen«, 3,5 Prozent der Stimmen und konnte dadurch erstmals 14 Abgeordnete im Parlament und einen Senator stellen. Damals entschloss sich die CHP dazu, »linke Ideologie« und »Nationalismus« zu verknüpfen, um die an die Tip verlorenen Stimmen zurückzugewinnen.

Seither gab es in der Türkei drei Militärdiktaturen, faschistische, sozialdemokratische, liberale Allein- und Koalitionsregierungen, Ausnahmezustände und Kriege niedriger Intensität, aber die sozialistische Linke hat nie wieder so viel Zuspruch unter den Wählern erreicht wie die Tip im Jahr 1965. Um den Begriff »links« gab es seitdem 1 001 Auseinandersetzungen, und er hat in der Türkei mit der Zeit eine andere Bedeutung als in Europa und den USA erhalten. Sowohl in den USA als auch in Europa sind die zentralen Themen der »Linken« gesellschaftliche Probleme: Arbeitslosigkeit, soziale Ungerechtigkeit, ungleiche Einkommensverteilung, Wohnsituation.

In der Türkei hingegen gilt die Aufmerksamkeit aller politischen Bewegungen, die sich zum »linken« Spektrum zählen, dem »Staatsproblem«. Das zentrale Anliegen der großen Mehrheit der Sozialisten ist die »Errichtung der Demokratie«, bei den Sozialdemokraten ist es die »Verteidigung der Republik und des zentralistischen Staats« und bei der kurdischen Linken die »Gründung der demokratischen Republik«. Angesichts dieser Ausrichtung wenden sich die verarmten Einwohner der Vorstädte und auf dem Land bei den Wahlen den rechten, islamistischen und nationalistischen Parteien zu, während die »linken« Parteien eher in reicheren Stadtteilen und von der Mittelklasse der Großstädte gewählt werden. »Gesellschaftliche Probleme« nehmen zwar immer den größten Teil der Wahlprogramme und der alltäglichen Proteste der »Linken« ein, aber sie dominieren ihren politischen Kampf nicht.

Die Partei für Freiheit und Solidarität (ÖDP), eine Sammlungsbewegung aus 14 linken Gruppierungen, war zu den Wahlen von 1999 mit dem Aufruf für eine »freiheitliche demokratische Republik« angetreten und wurde mit dem katastrophalen Ergebnis von 0,84 Prozent belohnt. Das Wahlmotto der CHP rief zur »Verteidigung der Republik« auf; auch sie scheiterte, wenngleich knapp, an der Zehn-Prozent-Hürde und blieb somit erstmals außerhalb des Parlaments. Die Wortführerin der kurdischen Linken, die Demokratische Partei des Volkes (Hadep), erhielt mit der Forderung nach einer »demokratischen Republik« zwar in vielen Provinzen des Südostens die Mehrheit der Stimmen, kam aber in den westlichen Städten, wo ein Großteil der kurdischen Bevölkerung lebt, den benötigten zehn Prozent nicht einmal nahe. Während die Rechts-Links-Aufteilung der Stimmen in den siebziger Jahren und der ersten Hälfte der achtziger Jahre bei 65 zu 35 Prozent lag, verschob sich das Verhältnis in den letzten 20 Jahren zum Vorteil der Rechten. Das Verhältnis ist nun schon fast 80 zu 20. Die »Linke« hat bei den Kommunalwahlen 2003 all ihre Hochburgen der islamischen AKP überlassen müssen.

Die Probleme, die die »Linke« der Türkei dazu brachten, sich von ihren historischen Zielen abzuwenden und sich vor allem dem Nationalismus zu widmen, liegen in ihrer Entstehungsgeschichte begründet. Sie hat die politische Bühne unter einer erheblichen Repression, losgelöst von marxistischen Grundlagen und ohne eine große Anhängerschaft in der Arbeiterklasse, betreten.

Diese Schwäche veranlasste die »Linke«, auf den Spuren von Che Guevara mit einem Voluntarismus zu experimentieren, der sie in den siebziger Jahren tatsächlich mit den ärmsten Schichten, den Arbeitern, Kurden und Aleviten, zusammenführte. Doch unter den Schlägen der Militärdiktatur nach dem Putsch vom 12. September 1980 war es damit bald wieder vorbei. Je schwächer der politische Einfluss der Marxisten wird, desto mehr gerät der Großteil der türkischen Linken in den Bann des Nationalismus. Manche, wie die Zeitschrift Türk Solu, meinen sogar, sich durch die Übernahme der simpelsten Parolen des türkischen Rassismus und Militarismus Handlungsmöglichkeiten schaffen zu können.

Doch auch wenn der Nationalismus große Anziehungskraft entwickelt, haben heutzutage die Thesen der Bewegung gegen eine kapitalistische Globalisierung einen wichtigen Einfluss auf den größten Teil der Linken. Das Gewicht der Kapitalismuskritik nimmt wieder zu; sogar die Kapitalisten, die auf dem Binnenmarkt unter der Konkurrenz des globalen Kapitals leiden, scheinen sich nach der »antikapitalistisch-antiimperialistischen« Kritik der siebziger Jahre zu sehnen und reihen sich mit den Gewerkschaften in die Opposition gegen das neoliberale Privatisierungsprogramm ein.

Doch seit dem großen Widerstand der Bergarbeiter im Jahr 1991 hat sich keine Massenbewegung mehr entwickelt, die diese Kritik bündeln und vorantreiben könnte. Solange das kurdische Problem nicht gelöst ist, das die Armen unter den Türken und Kurden aufgrund ihrer jeweiligen nationalen Zugehörigkeit untereinander zu Feinden macht, wird jeder gesellschaftliche Aufschwung im Schatten des Nationalismus erlahmen und eine Erneuerung innerhalb der Linken behindern. Die Türk Solu ist nichts anderes als ein Katalysator für diesen Verfall.

Ertugrul Kürkçü ist seit den späten sechziger Jahren in der Linken aktiv und Mitbegründer des Internetportals Bianet.