Im Namen der Ehre

Frauenorganisationen kritisieren, dass Frauen in der Türkei trotz einiger Fortschritte noch häufig als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. von kerstin eschrich

Die Beweislast für die Misshandlungen und Bedrohungen, denen sie in ihren Familien ausgesetzt sind, liegt bei den Frauen. »Oft rate ich ihnen, dass sie es auf Tonband aufnehmen, wenn sie mit ihrer Familie streiten und bedroht werden«, sagt Ayse Kısmet von der Istanbuler Frauenorganisation Amargi und verzieht das Gesicht. Die türkische Staatsanwaltschaft wird nur tätig, wenn konkrete Beweise für eine Bedrohung vorliegen, die Aussagen der Frau reichen nicht aus. Auch offizielle Atteste können hilfreich sein, wenn eine misshandelte Frau Anzeige erstatten will. Stolz erzählt Kısmet, dass es durch ihre Intervention einer Frau vor wenigen Tagen gelungen ist, ein solches Attest, das über eine Polizeiwache ausgestellt werden muss, zu erhalten.

Viele der jungen Frauen bei Amargi sind Journalistinnen, Lehrerinnen und Anwältinnen. Sie arbeiten ehrenamtlich bei der Frauenorganisation, die seit vier Jahren existiert. Um an Geld zu kommen, haben sie kurzzeitig eine kleine Papierwerkstatt betrieben. Sie arbeiten in Theoriegruppen, machen aber auch Stadtteilarbeit und unterstützen Frauen unter anderem beim Aufbau eines Kindergartens, beim Eintreiben ausstehender Löhne oder bieten ihnen Schutz vor der eigenen Familie. Inzwischen kommen oft misshandelte Frauen in ihr kleines Büro im Stadtteil Taksim. Sie vermitteln den Kontakt zu Anwältinnen und Ärztinnen und versuchen, ihnen den Weg aus ihren brutalen Familien zu ermöglichen.

Innerhalb von drei Monaten wandten sich 150 Frauen an das von Amargi eingerichtete Notruftelefon, weil sie mit Zwangsheirat, Inzest oder Morddrohungen konfrontiert waren. Derzeit unterstützt die Organisation zwei Frauen, die von ihrer Familie mit dem Tod bedroht werden. Die eine wurde vor zwei Jahren von einem so genannten Dorfschützer (Angehöriger der staatlich organisierten Miliz in den kurdischen Gebieten) vergewaltigt. Ihre Familie hat den Täter daraufhin ermordet. Auch die Frau soll nunmehr getötet werden. »Wir versuchen, sie vor ihrer Familie zu schützen, aber wir können nichts gegen sie unternehmen. Es gibt eben wieder einmal keine konkreten Beweise«, sagt Özlem Kasa, die ebenfalls für Amargi tätig ist. Ins Frauenhaus kann die Frau auch nicht, da sie bereits einmal in stationärer psychiatrischer Behandlung war und somit nicht aufgenommen werden darf. Derzeit gibt es etwa 15 staatliche »Gasthäuser«, wie die Frauenhäuser in der Türkei offiziell bezeichnet werden, dazu kommen etwa fünf unter kommunaler Verwaltung. Die Aufnahme in ein solches Haus erfolgt nach strengen Kriterien. Ein unabhängiges Frauenhaus gibt es nicht.

Die andere Frau wurde mit 13 Jahren an ihren Ehemann verkauft. Der verkaufte sie weiter. Sie gilt nun für ihre Familie als Prostituierte, die man um der »Ehre« willen töten muss. Sie hatte ein kleines bisschen Glück im Unglück. Anfang September ist sie in einem Frauenhaus untergekommen.

Wenn es den Frauen nicht gelingt, wenigstens ihren Lebensunterhalt zu sichern, müssen sie oft wieder in die Familie zurückgehen. Das kann ihr Todesurteil bedeuten, wie Kasa betont. Oft werden diese Morde verschleiert, als Unfälle oder Selbstmorde dargestellt.

Auch die Untätigkeit der Polizei, von der bedrohliche Auseinandersetzungen in der Familie häufig als »private Angelegenheiten« abgetan wurden, habe dazu beigetragen, dass Frauen getötet wurden. Im vergangenen Jahr sorgte die Ermordung einer Frau, die unter der Obhut der Polizei stand, für großes Aufsehen. Sie konnte vor ihrer Familie fliehen, wurde wegen ihrer schlimmen Verletzungen unter Polizeischutz ins Krankenhaus gebracht und dort von Verwandten getötet. Allerdings habe es positive Veränderungen im Bewusstsein der Bevölkerung gegeben, sagt Kasa. Die Medien reagierten sensibler und der Bildungsgrad in der Bevölkerung habe sich erhöht.

Als Ursachen für die Gewalt gegen Frauen haben Frauenorganisationen religiöse und traditionelle Praktiken, mangelnde Bildung, patriarchale Strukturen und Armut ausgemacht. »Oft heißt es, das steht so im Koran oder das ist bei uns Tradition«, sagt Kasa. Verbreitet ist die Diskriminierung von Frauen in der gesamten Türkei. »Wir sind Frauen des Nahen Ostens. Selbst wenn du in der gesellschaftlichen Hierarchie aufsteigst, bleibst du eine Frau des Nahen Ostens«, meint Kasa. Allerdings häufen sich die Fälle in den armen unterentwickelten Gebieten wie Südostanatolien. Dort verhinderten die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen türkischem Militär und kurdischer PKK die Etablierung demokratischer Standards. Kısmet berichtet von einer Frau in den kurdischen Gebieten, die mit neun Jahren gezwungen wurde, einen 12jährigen behinderten Jungen zu heiraten. »Erst vor kurzem, mit 19 Jahren, hatte sie die Möglichkeit, sich an uns zu wenden, um Hilfe zu bekommen.«

Im vergangenen Jahr hat die Frauenorganisation »Women for Women’s Human Rights« etwa 40 so genannte Ehrenmorde mittels eigener Zeitungsrecherchen in Erfahrung gebracht. »Die Dunkelziffer liegt aber weit höher«, sagt Karin Ronge von der Organisation. Eine offizielle Statistik existiert nicht. Die internationale NGO hat es sich zur Aufgabe gemacht, Frauen über ihre Rechte zu informieren, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Sie können ihr Wissen dann weitergeben. Neuerdings gibt es auch spezielle Kurse für Polizistinnen. Ihre Organisation verwende den Begriff »Ehrenmord« nicht gerne, erläutert Ronge. »Wir sprechen lieber von ›Ehrverbrechen‹. Die Tötung ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Mädchen werden als Menschen zweiter Klasse betrachtet.« Zwangsehen, erzwungene Verschleierung, Ausgehverbote, der Brautpreis, den die Eltern des Bräutigams zahlen müssen, und der Kult um die Jungfräulichkeit machen Frauen das Leben zur Hölle.

Von 1995 bis 1998 befragte die NGO 599 Frauen im Osten der Türkei nach ihrer Lebenssituation. Die meisten der Frauen gaben damals an, sie gingen davon aus, bei Ehebruch von ihrem Mann getötet zu werden. In ausschließlich religiös geschlossenen Ehen, die vom türkischen Staat nicht anerkannt werden und für die Beteiligten keine rechtliche Absicherung beinhalten, waren es 80 Prozent. Über die Hälfte berichtete auch, dass sie den Bräutigam vor der Hochzeit nicht zu Gesicht bekommen habe. Fast 50 Prozent der Befragten hatte keine Schulbildung.

Frauenorganisationen im Osten der Türkei waren sowohl Repressionen des Staates als auch der PKK ausgesetzt. Erst 1998 konnte sich die erste Frauenorganisation der Region gründen. Seit dem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen gebe es Verbesserungen, sagt Ronge. Auch die verstärkten Bemühungen der Türkei um einen Beitritt zur EU trügen dazu bei, die Situation von Frauen zu verbessern.

Anerkennend äußern sich Menschenrechtsorganisationen etwa über die Strafrechtsreform, die das Parlament im September 2004 verabschiedete. Mehr als 30 Artikel wurden zugunsten der Gleichberechtigung der Geschlechter verändert. Erzwungene Jungfrauentests sind nun strafbar, und Vergewaltigung in der Ehe gilt als ein Verbrechen. Allerdings üben die Frauenorganisationen auch Kritik. Sie fordern, im Strafgesetz »Ehrenmord« explizit in allen Formen als vorsätzlichen Mord zu definieren und Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung zu verbieten.