Im Zweifel gegen den Kandidaten

Die Argumente der deutschen EU-Gegner ähneln paradoxerweise denen der türkischen. von anton landgraf

Seltsame Dinge geschehen am Bosporus. Kurz vor dem Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union am 3. Oktober und den Bundestagswahlen in Deutschland kündigte die Staatsanwaltschaft des Istanbuler Bezirks Sisli an, ausgerechnet den renommiertesten Schriftsteller des Landes, Orhan Pamuk, wegen »öffentlicher Herabsetzung der türkischen Identität« und des »Türkentums« anzuklagen. Im Dezember soll der Prozess beginnen, ihm drohen drei Jahre Haft.

Pamuk hatte in einem Interview mit einer Schweizer Tageszeitung bemerkt, dass »man hier 30 000 Kurden und eine Million Armenier umgebracht hat«. Die bloße Erwähnung historischer Opferzahlen, die außerhalb der Türkei von keinem ernsthaften Historiker bezweifelt werden, reicht aus, um einen Schauprozess zu initiieren. Fast könnte man glauben, die Anklage erfolge im Auftrag höherer Mächte, um im letzten Moment die Beitrittsverhandlungen zu verhindern. Denn davon gibt es derzeit mehr als genug.

Allen voran setzt sich die deutsche Kanzlerkandidatin Angela Merkel (CDU) für ein Ende der Beitrittsgespräche ein. »Die Bürger der EU haben auch das Recht zu wissen, wo die Grenzen Europas sind«, erklärte sie kürzlich bei einer Wahlkampfveranstaltung und drohte, bei einem Wahlsieg die Verhandlungen zu stoppen. Zudem warb sie in einem offenen Brief an die EU-Außenminister Ende August für ihren Vorschlag einer »privilegierten Partnerschaft«. Was darunter zu verstehen ist, weiß niemand so genau zu sagen. Klar ist dabei nur eins: Die Türkei soll draußen bleiben. Die CDU-Kandidatin weiß, dass sie im Wahlkampf damit Sympathien gewinnen kann. Rund zwei Drittel der Deutschen lehnen aktuellen Umfragen zufolge eine Mitgliedschaft der Türkei ab.

Unterstützung erhält Merkel vom österreichischen Kanzler Wolfgang Schüssel, der einen Beitritt Kroatiens favorisiert. Auch bei anderen Mitgliedsstaaten stößt die Initiative der deutschen Konservativen auf Zustimmung.

Insbesondere die ungelöste Zypern-Frage bereitet kurz vor den Verhandlungen ernsthafte Probleme. Es sei »unvorstellbar«, dass ein Land EU-Mitglied werden könne, ohne alle Mitglieder dieser Union anzuerkennen, betonte etwa der französische Außenminister, Philippe Douste-Blazy. Auch Dänemark, Ungarn, Slowenien, Spanien und die Niederlande halten Nachverhandlungen für unabdingbar. Im Juli trat die Türkei der Zollunion bei, die auch für Zypern gültig ist. Zugleich erklärte die Regierung in Ankara, dass damit keine Anerkennung der geteilten Insel verbunden sei.

Die wachsenden Bedenken gegen den EU-Beitritt sorgen nun für heftige Reaktionen beim Kandidaten. Der Vorschlag einer »privilegierten Partnerschaft« sei »rechtswidrig und unmoralisch«, erklärte der türkische Außenminister Abdullah Gül. »Sollte die EU etwas anderes als eine volle Mitgliedschaft anbieten oder neue Forderungen stellen, werden wir gehen«, sagte Ministerpräsident Tayyip Erdogan dem britischen Magazin The Economist. Ein Rückzug werde dann endgültig sein.

Zu Recht vermutet die türkische Regierung, dass der ungelöste Status von Zypern nicht die alleinige Ursache für die miese Stimmung ist. Länder wie Frankreich und Spanien, die bereits der Ost-Erweiterung nur zähneknirschend zugestimmt haben, fürchten um ihre Agrarsubventionen, osteuropäische Mitgliedsstaaten wiederum sehen ihre eigene wirtschaftliche Integration gefährdet. Zudem zeigen die gescheiterten Referenden zur Verfassung die schwindende Akzeptanz für eine weitere Ausdehnung der EU.

Die deutschen Konservativen nutzen die Beitrittsfrage hingegen vor allem für eine ideologisch aufgeladene Debatte. Sie dient als Synonym für eine als Bedrohung empfundene Auflösung des Nationalstaates, der die materiellen Interessen und »kulturelle Identität« seiner Bürger nicht mehr zu wahren weiß. So verteidigte der CSU-Generalsekretär, Markus Söder, auf dem Parteitag in Nürnberg Anfang September tapfer die »christlich-abendländische Idee«. Wer das Abendland seiner Meinung nach bedroht, brauchte er gar nicht mehr zu erklären.

Paradoxerweise unterscheiden sich die Vorstellungen der deutschen Konservativen in vieler Hinsicht nicht allzu sehr von denen der türkischen. Auch am Bosporus wird der Beitritt argwöhnisch betrachtet und als Gefahr für die eigene Identität wahrgenommen. Während die Eliten größtenteils überzeugt sind, dass die EU-Integration notwendig ist, um das Land zu modernisieren, sträuben sich vor allem die Beamten in den mittleren Rängen von Verwaltung, Armee und Justiz gegen eine Liberalisierung.

Hinzu kommt, dass vielen türkischen Bürgern der Weg nach Europa mittlerweile endlos erscheint. Seit dem ersten Assoziierungsabkommen mit der Türkei sind über 40 Jahre vergangen, und wie lange nunmehr die Beitrittsgespräche dauern werden, kann niemand sagen. Zwölf Jahre mindestens, vermutlich aber deutlich länger – wenn am Ende der »ergebnisoffenen Verhandlungen« überhaupt etwas herauskommt.

Je mehr EU-Politiker daher von ihren Zusagen abrücken, desto mehr schwindet das Vertrauen der Bevölkerung. Und davon profitiert vor allem die nationalistische MHP, die sich als politische Opposition zur Europapolitik der Regierung etabliert.

Auch Erdogans eigene Basis, die islamistische AKP, könnte an der EU-Integration Zweifel entwickeln. So spricht der Islamwissenschaftler Bassam Tibi von einem »Entsäkularisierungs- und Enteuropäisierungsprozess«, in dem sich das Land befinde. Die AKP habe bislang nicht den Unterschied zwischen Islamismus, der Staat und Religion vereinen wolle, und konservativem Islam plausibel erklären können.

Gerade die Anklage gegen Pamuk zeigt, wie sehr man sich entzweit hat. Während die Regierung Erdogan mühsam versucht, den türkischen Staat an die EU-Auflagen hinsichtlich Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zumindest formal anzupassen, beruft sich die Staatsanwaltschaft auf den Schutz des »Türkentums«. Ob darunter nun ein stramm kemalistisches Staatsverständnis oder eine entsäkularisierte Gesellschaft verstanden wird – Pamuk gilt ihnen als willkommene Figur, um die ungeliebte EU-Integration zu bekämpfen.

So wird Erdogan spätestens nach dem Beginn der Beitrittsverhandlungen wieder mehr Rücksicht auf die europafeindliche Stimmung im Lande nehmen müssen – mit einer Rhetorik, die durchaus an die nationalistischen Wahlkampfreden der deutschen Konservativen erinnern könnte.

Wie der Prozess gegen Pamuk ausgehen wird, ist dabei schon fast nebensächlich. Gut möglich, dass er zum Opfer eines Unterfangens wird, das er selbst befürwortet. Er betrachte die Europäische Union als »Versprechen« und als »vorzügliches Instrument zur Reform der eingeschränkten Demokratie in der Türkei«, hatte Pamuk in dem Interview erklärt, das ihm jetzt zur Last gelegt wird. Es falle ihm daher schwer, diesem Versprechen »wütend den Rücken zu kehren, auch wenn Europa jetzt zögert und zweifelt. Aber jetzt zögert und zweifelt auch die Türkei in ihrer Beitrittsabsicht. Und das ist viel schlimmer, denn es bedeutet, dass antieuropäische Ressentiments die eingeschränkte Demokratie der Türkei zerstören.«