Sicherheit statt Streik

Die Privatisierungspolitik hat die türkischen Gewerkschaften geschwächt, während eine autoritäre Gesetzgebung den Unternehmern weitgehend freie Hand lässt. von aziz çelik

Das soziale Leben und die Arbeitsverhältnisse in der Türkei bergen, zusammen mit den Spannungen und Widersprüchen, die von tief verwurzelten und anhaltenden Problemen verursacht werden, das Chaos und eine durch den raschen Wandel verursachte Unsicherheit in sich. Weiterhin gibt es in der Sozial- und Beschäftigungsstruktur, aber auch in der Gesetzgebung große Unterschiede zu den Verhältnissen in der EU.

Die Erwerbsrate ist mit 48 Prozent deutlich niedriger als in der EU, wo der Durchschnitt bei 64 Prozent liegt. Unter den Frauen ist sie noch geringer, nur ein Viertel der Türkinnen ist erwerbstätig. Die Arbeitslosigkeit in den Städten liegt offiziell bei 15 Prozent, unter den Jugendlichen sogar bei 19 Prozent. Doch die tatsächliche Arbeitslosenrate ist nach Ansicht der meisten Experten weit höher. Viele Menschen sind in der Landwirtschaft oder im informellen Sektor der Städte beschäftigt, sie tauchen in den Statistiken nicht auf.

Die Landwirtschaft in der Türkei beschäftigt immer weniger Menschen. Der Anteil der ländlichen Bevölkerung ging zwischen 1990 und 2000 von 40 auf 34 Prozent zurück, dieser Rückgang hält weiter an und wird sich möglicherweise noch beschleunigen. Aufgrund der Landflucht steigt die Arbeitslosigkeit in den Städten. Dort entsteht eine neue Unterklasse, in der sozialen Schichtung spielen Faktoren jenseits der traditionellen Spaltung zwischen Kapital und Arbeit eine entscheidende Rolle.

3,5 Millionen der in den Städten tätigen neun Millionen Lohnabhängigen haben keine Sozialversicherung. Auf dem Land ist dieser Anteil noch größer, insgesamt sind offiziellen Angaben vom Mai 2005 zufolge 51,5 Prozent der Beschäftigten in der Türkei nicht registriert und nicht sozialversichert. Die hohe Arbeitslosigkeit und die neoliberale Politik begünstigen die unversicherte Beschäftigung, drücken die Löhne und erschweren die soziale Organisierung.

Wegen der Privatisierungspolitik ist auch die Anzahl der im öffentlichen Dienst Beschäftigten seit Mitte der achtziger Jahre von 900 000 auf 400 000 gesunken. Derzeit liegt ihr Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten bei 13 Prozent. Dadurch wurden auch die Gewerkschaften geschwächt. Denn der Organisationsgrad war im öffentlichen Dienst immer besonders hoch, deshalb war auch das Lohnniveau höher als im privaten Sektor. Früher entwickelten die höheren Tarife eine gewisse Sogwirkung auf die Privatwirtschaft, doch die Privatisierungspolitik hat die Kluft zwischen den wenigen gut bezahlten Arbeitskräften und der Masse der schlecht bezahlten und nicht versicherten Arbeitskräfte vergrößert.

Das Pro-Kopf-Einkommen in der Türkei ist mit etwa 4 000 US-Dollar im Jahr sehr niedrig, und der rasche Wandel in der Bevölkerungs- und Beschäftigungsstruktur bringt neue arme Schichten innerhalb der werktätigen Klassen hervor. Von staatlicher Seite wird nichts unternommen, um die Einkommensunterschiede zu beseitigen, und die Mittel, mit denen sich die Armen und Werktätigen gegen die Marktverhältnisse wehren können, sind begrenzt.

Die sozialen und gewerkschaftlichen Rechte sind eingeschränkt. Die seit 1980 dominierende neoliberale Wirtschaftspolitik betrachtet gewerkschaftliche Rechte als Hindernis im Konkurrenzkampf, es gibt eine Reihe autoritärer und repressiver Arbeitsgesetze. Diese Politik hat die Gewerkschaften in der Türkei immer mehr geschwächt.

Etwa elf Millionen Werktätige könnten sich gewerkschaftlich organisieren, doch die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder liegt unter einer Million. Die meisten von ihnen sind Angestellte der Regierung und der Stadtverwaltungen. Weil in der Türkei die Angestellten des öffentlichen Dienstes kein Streikrecht haben und keine Tarifverhandlungen führen dürfen, ist es jedoch fraglich, ob man hier tatsächlich von gewerkschaftlicher Organisierung sprechen kann. In diversen Berichten der Internationalen Arbeitsorganisation und der Europäischen Union wird darauf hingewiesen, dass die Türkei, was die Gewerkschaften angeht, weit davon entfernt ist, internationale Standards einzuhalten.

Den Beschäftigten im privaten Sektor werden auf dem Papier gewerkschaftliche Rechte zugestanden. Doch in der Praxis werden diese Rechte mit Hilfe vielfältiger Methoden beschnitten. So wird den Arbeitern beispielsweise das Streikrecht systematisch verwehrt. Die Regierung hat das Recht, die Verschiebung eines Streiks zu erzwingen, wenn sie der Ansicht ist, dass dieser »die nationale Sicherheit gefährden« würde. Seit dem Jahr 2000 sind acht große Streiks unter diesem Vorwand »verschoben« worden. Zuletzt wurde diese Methode am 1. September gegen die Arbeiter in einem dem Stahlwerk Eregli angeschlossenen Bergwerk angewendet. Die Verschiebung eines Streiks bedeutet in der Türkei de facto ein Streikverbot.

Zudem haben es die Unternehmer relativ leicht, mit vielfältigen Taktiken die gewerkschaftliche Organisierung zu behindern. Weil es in der Türkei keinen effektiven und funktionierenden Kündigungsschutz gibt, können Arbeiter, die Gewerkschaftsmitglieder sind, meist problemlos entlassen werden. Solche Maßnahmen werden in den großen Betrieben der Türkei gern angewandt. Im Jahr 2003 wurden 360 Arbeiter der Glasfabrik Pasabahçe, die der Isbank, der größten Privatbank der Türkei, gehört, wegen der Mitgliedschaft in der Gewerkschaft entlassen. Aus dem gleichen Grund entließ die türkische Niederlassung von Coca Cola kürzlich zahlreiche Arbeiter, sie organisieren derzeit eine Boykottkampagne gegen den Konzern.

Die meisten türkischen Kapitalisten streben eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU an, halten aber wenig von einer sozialen Politik und der Erweiterung gewerkschaftlicher Rechte. Das dürfte während der Beitrittsverhandlungen noch zu Konflikten führen.

Für die Arbeiter und die Gewerkschaften wäre die EU-Mitgliedschaft einerseits eine Chance, ihre sozialen und demokratischen Rechte durchzusetzen. Andererseits würden die ökonomischen Bedingungen für den Beitritt neue Probleme mit sich bringen, denn die EU fordert eine noch stärkere Reduktion der Ausgaben des Staates für soziale Zwecke. Doch auch ohne die Beziehungen zur EU spürt die Türkei die Mechanismen des globalen Marktes und die Folgen der neoliberalen Politik. Die Mitgliedschaft in der EU würde den Arbeitern mehr Möglichkeiten geben, sich unter besseren Bedingungen gegen eine Politik zu wehren, mit der sie ohnehin konfrontiert wären.

Aziz Çelik ist seit 1985 Leiter der Bildungs- und Forschungsabteilung der linken Gewerkschaft Kristal-Is und schreibt u.a. für die linke Tageszeitung Birgün.