Unter Schock

Die Türkei und al-Qaida von rusen çakir

Jede Krise bietet gleichzeitig eine Chance. Die vier Selbstmordattentate einer türkischen Gruppe von al-Qaida am 15. und 20. November 2003 in Istanbul hätten trotz des großen Schadens und des Schocks, den sie verursacht haben, die Türkei, den Nahen Osten, die islamische Welt und die EU aufrütteln können. Aber so ist es nicht gekommen. Der Staat und die Gesellschaft sind in eine Schockstarre gefallen, sie erwiesen sich als handlungsunfähig und sprachlos. Die Türkei hat auf diese Anschläge nicht angemessen reagiert.

Weder der türkische Staat noch die Gesellschaft sind sich bewusst, dass die al-Qaida mit dem Krieg, den sie angefangen hat, einen clash of civilizations herbeiführen will. Daher fehlt auch weiterhin ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer ideellen, kulturellen und politischen Kampfstrategie. Zweifellos ist ein wichtiger Grund hierfür der starke Einfluss des US-amerikanischen war on terror auf die Türkei. Das komplette Versagen dieser Strategie wird von Tag zu Tag deutlicher.

Offensichtlich hat al-Qaida mit den vier Angriffen auf jeweils eine britische Bank, das britische Konsulat und jüdische Einrichtungen mehrere Ziele ins Visier genommen: die Juden, Israel, Großbritannien, die USA und natürlich auch die Türkei sowie die Stadt Istanbul. Warum die Türkei? Die einfachste Antwort auf diese Frage lautet: Warum denn nicht? Warum sollte al-Qaida, die Anschläge in Saudi-Arabien, Indonesien, Marokko und Tunesien durchführt, die Türkei auslassen? Zweifellos haben die Attentate in der Türkei ein größeres Echo als die Anschläge in anderen islamischen Ländern ausgelöst.

Die Türkei ist der modernste, am stärksten vom Laizismus gekennzeichnete und am engsten mit dem Westen verbundene Teil der islamischen Welt, eventuell wird sie EU-Mitglied. Ihre Politik ist eine, vielleicht die einzige Alternative zur islamistischen Ideologie von al-Qaida. In vielen islamischen Ländern werden die Machenschaften von al-Qaida durch autoritäre und totalitäre Regimes erleichtert, die islamischen Bewegungen keinerlei Handlungsfreiheiten zugestehen. Die Türkei hingegen konnte solche Bewegungen, wenn auch mit Schwierigkeiten, in ihr System einbinden. Dass die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) durch Wahlen an die Macht gelangen und sich an der Regierung halten konnte, ist ein Beweis für diese Integrationsfähigkeit.

Zudem ist die Türkei der einzige islamische Mitgliedsstaat der Nato, sie hat die USA im Afghanistan-Krieg unterstützt und, wichtiger noch, während der Besetzung des Irak versucht, eine proamerikanische Politik zu verfolgen. Das macht die Türkei automatisch zu einem Angriffsziel von al-Qaida. Erleichtert wurden die Attentate in der ohnehin schwer kontrollierbaren Metropole Istanbul noch durch das Versäumnis der Verantwortlichen, die Bedrohung durch den Terror ernst zu nehmen.

Wer fürchtet, die EU-Mitgliedschaft der Türkei werde zu einer Verlagerung des globalen Terrors nach Europa führen, versteht das Wesen dieses Terrors nicht. Und wer dazu neigt, in jedem Muslim einen Terroristen zu sehen, sollte auch erklären, wie er sich die Zukunft für die Millionen von Muslimen, die in Europa leben, vorstellt. Sollen sie polizeistaatlichen Kontrollmechanismen unterworfen werden?

Die EU-Mitgliedschaft der Türkei würde demonstrieren, dass der Westen nicht islamfeindlich ist. Zudem wird die EU im unausweichlichen Kampf gegen den Terror starke Partner brauchen. In der islamischen Welt ist die Türkei hierfür der beste und vielleicht einzige Kandidat.

Rusen Çakır ist Korrespondent der liberalen Tageszeitung Vatan in Washington.