Zahme Tiger

Die Erwartung eines EU-Beitritts weckt bei der armen Bevölkerung ebenso große Hoffnungen wie bei den wirtschaftlichen Eliten. von jan keetman

Es ist 5.30 Uhr. Im Zwielicht vor der staatlichen Augenklinik im Stadtteil Galata in Istanbul stehen etwa 60 Menschen, und laufend kommen weitere hinzu. So geht es jeden Morgen, ob Frost herrscht, ob es regnet oder schneit. Wer krank ist und sich keine private Behandlung leisten kann, muss eben warten. Ab acht Uhr erhält man eine Nummer, um elf wird man vielleicht behandelt. Der letzte in der Reihe dreht sich um und fragt: »Lässt Europa so eine Schande zu?«

Für die so genannten kleinen Leute soll Europa alles Mögliche verbessern. Aber auch ein großer Teil der Geschäftswelt denkt nicht anders. Häufig hört man die Ansicht, dass alleine schon die Erwartung eines EU-Beitritts die Wirtschaft boomen lasse. Der Europa-Kurs der islamisch-konservativen Regierung dient daher als eine Art Gütesiegel für ihre Politik. So lange die Regierung ernsthaft den Beitritt anstrebt, wird sie eine berechenbare Strategie verfolgen. Sie wird keine islamistischen Experimente wagen, die das Militär provozieren könnten.

Von dieser Politik erhofft man sich vor allem zusätzliches ausländisches Kapital. Bislang konnte die Türkei nur verhältnismäßig wenige Investitionen anziehen. Das soll nunmehr anders werden. Das Land bietet niedrige Löhne und einen durch die Zollunion gesicherten Zugang zu einem lukrativen europäischen Wachstumsmarkt. In vielen Branchen, wie der Stahl-, Konsumgüter- und Automobilproduktion, ist eine starke industrielle Basis bereits vorhanden.

Zu den Favoriten der Investoren zählt derzeit insbesondere der Bankensektor, der noch vor vier Jahren das Land in eine tiefe Krise stürzte. Die Rechnung ist denkbar einfach: Die Summe aller Bankaktiva in der Türkei beträgt 75 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP), in der EU beträgt das Volumen rund 280 Prozent. Hinzu kommt, dass das BSP im letzten Jahr um fast zehn Prozent gewachsen ist.

Das hohe Wachstum gilt als Beweis für die These, dass alleine schon die Aussicht auf die EU-Integration die Wohlstandskluft zwischen der EU und der Türkei verringert und damit ein wesentliches Hindernis für den Beitritt aus dem Weg räumt.

Diese Ansicht ist zwar nicht grundsätzlich falsch, wird aber häufig völlig übertrieben wahrgenommen. Schließlich ist die Aussicht auf einen Beitritt nur ein Grund unter mehreren, die den Boom in der Türkei ermöglicht haben. Ohne Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Höhe von 30 Milliarden Dollar hätte das Land nicht so schnell die tiefe Krise von 2001 überwinden können. Dieser Einbruch war darüber hinaus eine Ursache für den wirtschaftlichen Aufschwung – in den letzten drei Jahren ist das Sozialprodukt um durchschnittlich jeweils 7,9 Prozent gestiegen. Nimmt man aber das Krisenjahr 2001 hinzu, so liegen die Raten in den letzten vier Jahren deutlich niedriger. Mit solchen Wachstumszahlen könnte sich derzeit vielleicht der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder profilieren, von einem »türkischen Tiger« auf dem Sprung nach Europa kann aber keine Rede sein.

Zugleich drängt sich die Frage auf, wer von dem Aufschwung profitiert. Der positive Wachstumseffekt und der durch die Bevölkerungszunahme geschaffene zusätzliche Bedarf auf dem Arbeitsmarkt halten sich in etwa die Waage, so dass die Arbeitslosenquote stagniert. Trotz der guten Wirtschaftsdaten lebt noch immer rund ein Drittel der Bevölkerung in Armut.

Unzufrieden sind nicht nur viele Türken, sondern auch die Vize-Präsidentin des IWF, Anne Krueger. Während einer Rede über die makroökonomischen Anforderungen für den EU-Beitritt empfahl sie der Regierung, den Mindestlohn abzuschaffen. Mit anderen Worten: Ein Monatseinkommen von 270 Dollar gilt selbst bei Preisen, die nicht viel unter dem europäischen Durchschnitt liegen, offenbar als zu hoch.

Anne Krueger ist nicht die einzige, die solche Überlegungen für sinnvoll hält. Auch wenn sich der türkische Ministerpräsident, Tayyip Erdogan, öffentlich nicht für die Abschaffung des Mindestlohns ausspricht, hat er kürzlich doch vorgerechnet, dass sich jedes Mitglied einer fünfköpfigen Familie mit einem Mindestlohn 30 Tage lang dreimal täglich einen Tee und einen Sesamkringel leisten kann. Was wollen die Leute da noch mehr?

Erdogan erwähnte jedoch bei seinen Ausführungen die steigenden Mieten nicht, die sich in einigen Istanbuler Stadtteilen innerhalb eines Jahres verdoppelt haben. Und damit lag er sogar richtig. Die Mieten sind aus der Statistik über die Lebenshaltungskosten entfernt worden, da viele Türken in den eigenen vier Wänden wohnen. Wer von einem Mindestlohn leben muss und kein Eigenheim besitzt, hat eben Pech gehabt.

Während der wirtschaftliche Aufschwung einen großen Teil der Bevölkerung nicht erreicht, ist sie immer mehr auf eigene Mittel angewiesen, was Gesundheit und Bildung angeht. Neben der Misere des Gesundheitswesens ist in dem kinderreichen Land auch das Schulsystem chronisch unterfinanziert. So sind die schlecht bezahlten Lehrer auf zusätzliches Geld von den Eltern angewiesen. Wer nicht freiwillig bezahlt, dem werden einfach die Zeugnisse verweigert. Diese Praxis widerspricht zwar der türkischen Verfassung, erspart aber dem Staat einen großen Teil der Lohnkosten. Studenten, die gegen diese illegalen Zahlungen demonstrierten, landeten vor einigen Jahren als »Mitglieder einer unbewaffneten Terrororganisation« für mehrere Jahre im Gefängnis.

Daher haben sowohl die Armen als auch die Wirtschaft gute Gründe, um auf die EU zu hoffen. Gegen den Beitritt sind vor allem diejenigen, die mit dem Status quo zufrieden sind: Ein großer Teil der Beamtenschaft sowie die Branchen, die auf den Binnenmarkt fixiert sind bzw. von Staatsaufträgen leben.

Man kann diesen Gegensatz auch am Beispiel zweier Städte beschreiben. Die Beamten und die Handelskammer in Ankara sind überzeugte EU-Gegner; ihre nationalistischen Kampagnen könnten auch der Europa-Politik Erdogans noch große Schwierigkeiten bereiten. In Istanbul mit seinen Häfen, den internationalen Messen und einer großen Exportindustrie unterstützt die Industriekammer entschieden die Annäherung an die EU und die Demokratisierung der Türkei. Derzeit verfügt die Istanbuler Lobby über den größeren Einfluss, denn ihre Forderungen überschneiden sich mit den Hoffnungen der Unterprivilegierten. Die einen wollen einen größeren Markt, die anderen Arbeit, höhere Löhne und bessere Sozialleistungen.

Jan Keetman ist Journalist und lebt in Istanbul.