Über diese Brücke musst du geh’n

Die einst als »entartet« gebrandmarkte Künstlergruppe »Die Brücke« wird im 100. Jahr nach ihrer Gründung zu Tode gefeiert. von christian saehrendt

In diesem Jahr wird der 100. Geburtstag der Dresdner Künstlergruppe »Die Brücke« gefeiert. Der Ausstellungsmarathon begann im Frühjahr in Madrid, nun ist Berlin an der Reihe. In der Berlinischen Galerie werden jetzt 220 Werke gezeigt. Zusammen mit der Gruppierung »Der Blaue Reiter« steht die »Brücke« für den kunsthistorischen Begriff eines »deutschen Expressionismus«, der in der Weimarer Republik, dem »Dritten Reich« und der DDR sehr umstritten war, während er von Westdeutschland zur kulturellen Selbstdarstellung benutzt wurde. Heute hingegen besteht die Gefahr, den Expressionismus zu Tode zu feiern. Der deutsche Expressionismus ist in der Forschung und auf dem Kunstmarkt weltweit akzeptiert. »Brücke«-Ausstellungen sind Teil des kommunalen oder nationalen Standortmarketings geworden, sie tragen bei zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und Selbstdarstellung der Städte, Museen und Kuratoren. Erfolgskriterien sind möglichst hohe Einnahmen, ein starkes Medienecho und hohe Besucherzahlen – am besten noch eine lange Schlange vor dem Haus. Bei so viel Harmonie wächst natürlich die Gefahr der Erstarrung und Verflachung des Künstlerbildes durch die immergleichen Muster der Retrospektiven und opulenten Materialschlachten. Die Feier der bekannten Meisterwerke macht die »Brücke« zum dekorativen Element des verflossenen Zeitalters der Extreme. Es ist eine Aura altbundesrepublikanischer Saturiertheit, die Institutionen wie die friesische Nolde-Stiftung oder das Berliner »Brücke«-Museum inzwischen umgibt.

In der Weimarer Republik kämpften progressive Museumsdirektoren den Expressionismus gegen die konservative Mehrheit im Publikum und gegen die rechtsnationale Presse durch. Bald hatten Kunsthistoriker wie Max Sauerlandt, Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg, oder Ludwig Justi, Direktor der Nationalgalerie, erkannt, dass sich die Moderne mit dem Gütesiegel »deutsche Kunst« besser verteidigen ließ. Auf der Basis der Theorien der Koryphäen Heinrich Wölfflin und Wilhelm Worringer erklärten sie den Expressionismus zum deutschen Nationalstil.

Zu Beginn des »Dritten Reichs« schien es sogar plötzlich möglich zu sein, die »Brücke«-Kunst als »nordischen Expressionismus« zur neuen Staatskunst zu machen – so wie in Italien ein gemäßigter Futurismus als modernistisches Dekor des Faschismus geduldet wurde. Maßgeblich auf Hitler ging die Entscheidung zurück, die Künstler der »Brücke« als »entartet« zu verfolgen. Die Stigmatisierung erweist sich heute gewissermaßen als Glücksfall für die heutigen »Brücke«-Freunde in Kunst und Wissenschaft, ansonsten wären ihre Sammlungs- und Forschungsobjekte so anrüchig wie Skulpturen Arno Brekers oder Josef Thoraks. Emil Nolde, Ernst Ludwig Kirchner und Max Pechstein hätten jedenfalls gerne mitgemacht, wie ihre Briefe aus der damaligen Zeit zeigen. Die Tatsache, dass die Künstler bis auf Kirchner zwischen 1933 und 1945 in Deutschland blieben, führte dazu, dass sie in der Kunstgeschichtsschreibung der westlichen Länder bald zu Randfiguren wurden.

Alle überlebenden Künstler der »Brücke« hatten den Westen als Wohnort gewählt. Die Kunstpolitik in der jungen Bundesrepublik reklamierte sie bald als kulturelles Erbe. Sie galten hinsichtlich des Nationalsozialismus als unbelastet und konnten gleichzeitig gegen die realsozialistische Ideologie des »parteilichen Künstlers« ins Feld geführt werden.

In Westdeutschland wurden die Künstler von Jahr zu Jahr populärer, um Nolde entwickelte sich geradezu ein Kult. Er wurde nach 1945 mit Ehrungen überhäuft. Die Presseresonanz war enorm, seine Ausstellungen erzielten Besucherrekorde. Ausdruck dieser unkritischen Verehrung des Künstlers war beispielsweise der weit verbreitete Roman »Deutschstunde« von Siegfried Lenz, der Nolde zum stoischen Widerständler stilisierte. Vergessen war, wie gut Noldes Geschäfte auch im Krieg liefen – schließlich hatte sich der berüchtigte SD-Chef Reinhard Heydrich 1940 beschwert, wie es denn sein könne, dass ein »entarteter« Künstler bei seiner Steuererklärung Einkünfte in Höhe von 80 000 Reichsmark geltend machte. Vergessen waren seine antisemitisch grundierten Autobiografien von 1931 und 1934.

Auch Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff und Erich Heckel kamen zu Ehren, wurden zu Akademieprofessoren ernannt, blieben aber ohne Einfluss auf den künstlerischen Nachwuchs. Selbst das vergleichsweise schmale Werk des früh verstorbenen Otto Müller wird in den sechziger Jahren wieder entdeckt. Sie alle wurden von der wachsenden Popularität Kirchners in den Schatten gestellt.

Als 1975 das Bonner Kanzleramt gebaut wurde, entschied sich Helmut Schmidt für eine künstlerische Ausstattung mit Werken der »Brücke«. Kirchners Gemälde »Sonntag der Bergbauern« hing an zentraler Stelle im Foyer des Leitungsgebäudes – heute dominiert es den Kabinettsaal im Berliner Kanzleramt. Schmidt wollte damit die »nationale künstlerische Traditionslinie« des Expressionismus fortsetzen.

Auch andere führende Politiker der Bundesrepublik wie Richard von Weizsäcker erklärten sich zu Bewunderern der »Brücke«, die nun immer mehr in den Rang einer offiziellen Staatskunst Westdeutschlands hineingeriet.

In der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR wurde expressionistische und abstrakte Kunst offiziell verfemt. In erschreckender Weise übernahm die Publizistik fast wörtlich das Vokabular der nationalsozialistischen Kampagne »Entartete Kunst«, was große Teile der Bevölkerung in der vertrauten Abneigung gegen expressionistische und moderne Kunst bestätigte. Im Sinne der Stalinschen Thesen zur Nation erklärte der Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, 1953 bei der Eröffnung der III. Deutschen Kunstausstellung in Dresden: »Um die Nationen zu zerstören, propagiert der Imperialismus die so genannte Weltkunst unter Leugnung der nationalen Bindungen aller Kunst.« Der Kosmopolitismus mit seiner »bis zur anarchischen Auflösung betriebenen Individualisierung der Kunst«, schließt Grotewohl, »ist Zersetzung und führt zum Krieg.« Die Kunst der »Brücke« galt nun als »dekadent« und »zersetzend«. Erst im Lauf der siebziger und achtziger Jahre erweiterte sich der Spielraum für eine objektivere Expressionismusforschung. »Die Brücke« galt jetzt als allgemeines, »humanistisches« kulturelles Erbe – es ist die Geschichtspolitik der späten DDR, die nach allen erreichbaren historischen Figuren griff, um sich zu legitimieren: Luther, Friedrich der Große, selbst Bismarck wurden ins sozialistische Weltbild eingemeindet.

Gemessen an der turbulenten Wirkungsgeschichte der letzten 100 Jahre ist es um die Kunst der »Brücke« heute ruhig geworden. Es droht gepflegte Langeweile. Es wird daher auch in Zukunft wichtig sein, den hermetischen Bezug von Werk und Biografie dieser Künstler aufzubrechen. Voraussetzung dafür ist, das historische Umfeld zu beleuchten, auf hermeneutische und interdisziplinäre Weise die Komplexität von Persönlichkeit, Werk und historischer Situation zu erfassen. Es ist auch kein Zufall, dass der vielseitige Ernst Ludwig Kirchner in den letzten Jahren der präsenteste »Brücke«-Künstler wurde. Seine schillernde Person und das immer wieder überraschende Werk bieten zahlreiche Facetten, das Bild Kirchners bleibt interpretierbar.

Vom Autor ist gerade im Steiner-Verlag »Die Brücke zwischen Staatskunst und Verfemung« erschienen.