Unter der Kapuze

In Argentinien sollen die Verbrechen der Militärdiktatur juristisch verfolgt werden. Im größten Internierungslager der Junta wird ein Dokumentationszentrum eingerichtet. von hilmar poganatz, buenos aires

Die Sonne strahlt, es duftet nach Blumen, und in Sträuchern mit rosafarbenen Trompetenblumen zwitschern die Vögel. Cachito sucht den Schatten einer Eiche. Dort stellt sich der stämmige, nur knapp 1,60 Meter große Mann mit dem schwarzen Rauschebart breitbeinig, fast trotzig hin. Hinter ihm steht ein blitzend weißer Metallzaun, der ihn um einen halben Meter überragt. Wäre da nicht ein Paar schwerer Soldatenstiefel, deren schwarze Kappen man auf der anderen Seite des unten offenen Zauns erspäht, könnte man leicht vergessen, auf welchem Boden Cachito steht: auf dem Gelände des einstmals größten Folterlagers von Lateinamerika, der Esma. Hier wurde der heute 48jährige Argentinier anderthalb Jahre lang festgehalten und gefoltert.

Die Stiefel hinter dem Zaun könnten einem der Täter gehören, denn verurteilt wurden die wenigsten von ihnen. 22 Jahre nach dem Ende der Diktatur gelten noch immer die Gesetze zum »Schlusspunkt« und zum »pflichtgemäßen Gehorsam«. Sie stellen die Verbrechen der Militärs unter Straffreiheit. Doch viele Argentinier wollen die Amnestierung rückgängig machen, und Präsident Néstor Kirchner hat diese Forderung aufgegriffen. Er entließ gleich nach seinem Amtsantritt mehrere führende Militärs, im Februar folgte die Entlassung der Spitze der Luftstreitkräfte. Der Präsident sucht demonstrativ die Nähe zu Menschenrechtsorganisationen und will die Voraussetzungen für eine juristische Verfolgung der Täter schaffen. Im Juni bestätigte das Oberste Gericht in Buenos Aires eine Entscheidung des Parlaments, die Amnestiegesetze für verfassungswidrig erklären zu lassen. Die Umwälzungen der vergangenen Jahre haben das gesellschaftliche Klima verändert. Es kommen immer mehr Hinweise aus der Bevölkerung, anhand derer die Täter überführt werden können. Die Gerichte haben Verfahren gegen Folterer aufgenommen. 400 bis 1 000 Soldaten und Polizisten könnten angeklagt werden, 150 sind bereits verhaftet oder stehen unter Hausarrest.

Cachito, der mit richtigem Namen Enrique Mario Fukman heißt, deutet auf den weißen Metallzaun, hinter dem noch immer die Marineschule liegt, und sagt dann ungefragt, was einer wie er von »Versöhnung« hält: »An so etwas glauben wir nicht«, bricht es aus ihm heraus, »wir glauben nur an die Gerechtigkeit.« Zu viele Folterer seien noch in Amt und Würden. Deswegen der weiße Zaun.

Der argentinische Staatsterror begann mit dem Militärputsch vom 24. März 1976, nachdem schwere gesellschaftliche Unruhen, Generalstreiks, politische Morde und eine Entführungswelle das Land erschüttert hatten. Parteien und Gewerkschaften wurden verboten, in den Jahren bis 1983 brachte die Junta durch schätzungsweise 30 000 Morde jedwede Opposition zum Schweigen.

Ungefähr 5 000 Oppositionelle verschleppte die Marine damals auf das riesige Gelände der Mechanikerschule Escuela de Mecánica de la Armada (Esma), das an einer breiten Hauptstraße mitten in der Hauptstadt Buenos Aires liegt. Nur rund 250 Gefangene überlebten die Haft im Lager. Derzeit wandelt die Stadt das Offizierskasino der Esma zu einem Dokumentationszentrum um. Fukman war schon lange vor der offiziellen Eröffnung auf dem Gelände gewesen, um den zukünftigen Museumsführern den Ort zu zeigen, gemeinsam mit den alten Compañeros, die ihn nur »Cachito« nennen. »Bröckchen« wird Fukman gerufen, weil er klein ist und auch ein wenig rundlich.

»Ich war in meiner Wohnung, als sie die Tür aufbrachen, sie kamen in Zivil«, erzählt er von seiner Verschleppung im November 1978. Er stand den verbotenen linksperonistischen Montoneros nahe, die auch Guerillaaktionen durchführten, und er wusste sofort, wer gekommen war, um ihn zu holen, als man ihm eine Kapuze über den Kopf zog und in den Kofferraum eines grünen Ford Falcon warf.

Hand in Hand mit seinen Leidensgenossen von damals steigt Fukman einen Treppenschacht hinunter, in den berüchtigten Keller des Kasinos. Es ist das vierte Mal für ihn, dass er zurückkehrt seit der Öffnung der Esma vor einem Jahr. Diffuses Licht durchflutet das leere Souterrain. Zehn schlanke Säulen stützen die niedrige Waschbetondecke, der Rest bleibt der Einbildung überlassen. Und den Worten Fukmans: »Hier waren Trennwände, dort lag eine Matratze, auf die haben sie mich geworfen und mich mit Elektroschocks gequält, in der Hoffnung, dass ich die Genossen verpfeife – tagelang.«

Cachito spricht schnell, immer wieder ballt er die Fäuste, faltet die Hände oder schließt die Augen, wenn er seine Folterer verflucht. »Bevor es losging, schienen sie wie ganz normale Menschen, aber dann verwandelten sie sich schlagartig«, erinnert er sich. Zu viele Details will er nicht nennen, den Geruch, die Schreie, damit hat er schlechte Erfahrungen gemacht, niemand wollte diese Sachen hören, schon damals, als er frei kam. »Und, na ja«, fügt er hinzu, »hier drin gebe ich den Harten. Aber wenn ich hier rausgehe, bin ich immer sehr müde und brauche erst mal ein Glas Wein.«

Die Treppe zum Obergeschoss der Esma zeigt Spuren schwerer Fußketten. Über sechs Monate musste Fukman im Bereich »Kapuze« verbringen, so nannten sie den düsteren Dachstuhl, wo die Gefangenen Tag und Nacht auf Matratzen lagen, im Dunkel einer übergestülpten Kapuze, ohne die Erlaubnis zu sprechen. Erst wer »weichgekocht« war, kam ins »Aquarium«, in gläserne Bürokästen, in denen die Gefangenen zur Schreibtischarbeit gezwungen wurden.

Wie der Keller, so zeigt auch der Dachstuhl keinerlei erkennbare Spuren der grausigen Vergangenheit. Jede schauerlich pittoreske Matratze würde dem Ort seine Würde rauben, so mag das Credo der Museumsbetreiber lauten. Stattdessen sollen in diesem Jahr Ausstellungssäle, eine Bibliothek und ein Forschungsinstitut in der Esma entstehen. Ein mit Bleistift gekritzelter Spruch, den junge Offiziersanwärter bei der Räumung ihrer Quartiere hinterlassen haben, sagt indes mehr über die Gemütslage in Argentinien, als jede Schautafel ausdrücken könnte: »Mit dem, was geschehen ist, hatten wir nichts zu tun, aber ich bitte euch trotzdem um Verzeihung.«

Fukman fällt es dennoch schwer zu verzeihen. Er hat lange gebraucht, um sich wieder in die Gesellschaft integrieren zu können, auch wegen der Vorwürfe, überlebt zu haben, weil er ein Verräter gewesen sei. Heute ist er wieder politisch engagiert und unterrichtet Berufsschüler in Elektrotechnik. Wie für viele Argentinier ist die Zeit der Diktatur auch für ihn »ein sehr wichtiger Abschnitt meines Lebens«, aber nicht der einzig wichtige. Auf die Frage, wie er mit der Vergangenheit umgeht, antwortet er mit der Gegenwart: »Siehst du, wie schön heute die Sonne scheint?« fragt er mit eindringlichem Blick. Und dann sagt er noch einmal: »Schau doch, wie schön die Sonne scheint.«