Ab in die Exklaven

Zwei spanische Städte in Marokko sind zum Nadelöhr für Migranten aus ganz Afrika geworden. Vergangene Woche starben fünf Menschen beim Versuch, die Grenze zu überwinden. von alfred hackensberger, ceuta

Knapp 45 Minuten dauert die Überfahrt von dem im Süden des spanischen Festlands gelegenen Algeciras nach Ceuta. Die Stadt ist neben Melilla die zweite Enklave an der nordmarokkanischen Küste. Rund 70 000 Menschen leben jeweils in diesen letzten Überbleibseln des spanischen Kolonialismus auf dem Territorium Marokkos. Viele Spanier unter der Bevölkerung sind wehmütig verbunden mit den »guten, alten Zeiten« unter General Francisco Franco. Darauf verweisen nicht zuletzt die Namen der Straßen, die noch immer nach historischem Personal aus der Ära des Faschismus benannt sind. Und an vielen öffentlichen Gebäuden prangen die Slogans der faschistischen Falange. Von hier aus begann der Generalissimo Franco 1936 seinen Putsch gegen die spanische Republik.

In der vergangenen Woche versuchten über 1 000 Afrikaner, die Grenzzäune der beiden europäischen Bastionen auf afrikanischem Boden zu überwinden. Fünf von ihnen wurden dabei getötet, einige Hundert verletzt. Es sei der größte »Anschlag auf die Grenze« von Ceuta gewesen, erläuterte die spanische Presse. Über 600 Afrikaner kletterten mit Hilfe von Leitern auf den Grenzzaun. Im Hagel von Gummigeschossen und unter den Schlägen der marokkanischen und spanischen Polizei schafften es rund 200, auf europäischen Boden zu gelangen. Sie hatten sich eine Stelle ausgesucht, wo der Zaun anstatt der üblichen sechs nur 3,50 Meter hoch war. In den nächsten Tagen sollen nun die Bauarbeiten beginnen, um den Zaun auf der gesamten Strecke von zehn Kilometern rund um die Stadt auf gleiche Höhe zu ziehen.

Bereits zwei Tage nach dem Sturm auf die Grenze sind alle Spuren weggeräumt. Spanische Beamte patrouillieren entlang des Zaunes, geschützt durch schusssichere Westen und bewaffnet mit Maschinengewehren. Ein marokkanischer Hirte, der mit seinen Ziegen über den Hügel wandert, wird harsch angewiesen, das Gebiet sofort zu verlassen. Man ist nervös. »Aber sie können letztlich nichts tun«, sagt Bruder Diego Diaz Moreno vom Weißen Kreuz in Ceuta, wo verletzte Flüchtlinge untergebracht sind und ärztlich versorgt werden. »Wenn wieder eine Menschenmenge dieses Ausmaßes kommt, können auch die Soldaten wenig ausrichten. Sie dürfen ja nicht schießen«, meint Bruder Moreno.

Am vergangenen Mittwoch ist jedoch geschossen worden. Noch ist nicht geklärt, ob spanische oder marokkanische Polizisten von der Schusswaffe Gebrauch machten. Auf beiden Seiten beschuldigt man die anderen. Fest steht nur, dass drei Schwarzafrikaner auf marokkanischem und zwei auf spanischem Territorium ums Leben kamen. »Wie konnte das Spanien nur tun«, fragt sich ein Flüchtling. »So ein zivilisiertes Land. Ich dachte, in Europa gäbe es so etwas nicht.« In Marokko sind sie daran gewöhnt, dass man sie wie Freiwild behandelt.

Über 11 000 Grenzverletzungen wurden dieses Jahr schon in Melilla registriert. Seit August sind dort drei Flüchtlinge ums Leben gekommen. »Auch in Ceuta gehört die Migration zum Alltag«, sagt Bruder Moreno. Das Weiße Kreuz habe in den letzten Jahren Tausende von Immigranten versorgt. Doch Umfang und Organisationsgrad der Flüchtlingsbewegungen seien außergewöhnlich. »Die Immigrations-Mafia hat gute Arbeit geleistet.« Eine Reise aus Nigeria nach Europa kostet zwischen 2 000 und 3 000 Euro. Wer nicht über das nötige Geld verfügt, macht einen Vertrag, in dem die Familie als Garantie der Verfügungsgewalt der Mafia überschrieben wird. Sobald der Flüchtling europäischen Boden erreicht, ist der Vertrag »rechtskräftig«. Wer das Geld dann nicht zurückbezahlt, dessen Schwester oder Frau kann die Mafia zuhause auf den Strich schicken, bis die Schuld samt Zinsen beglichen ist. »Diese schreckliche Geschichte höre ich nun schon seit Jahren«, sagt Bruder Moreno nachdenklich. »Obwohl das Risiko so groß ist, hält es niemanden von der Flucht ab.«

Dabei wird es immer schwieriger, mit einer »batera« – einem Boot – nach Spanien zu kommen. Nach dem Regierungsantritt des Sozialdemokraten Rodriguez Zapatatero verbesserten sich die Beziehungen der beiden Staaten im Bereich der Migrationsbekämpfung. Dieses Jahr nahmen die marokkanischen Behörden im Süden des Landes 2 678 Immigranten fest, die auf dem Weg an die Mittelmeerküste waren. Die spanische Staatssekretärin für Immigration, Consuelo Rumi, lobte die neuen Maßnahmen Marokkos. »Die Zahl der Boote auf dem Weg nach Spanien reduzierte sich in diesem Jahr bereits um ein Drittel.«

Von Tanger nach Ceuta führt eine kleine Straße ins Dorf Bel Younech. Dort gibt es einen Grenzübergang, aber nur die Kinder, die täglich auf spanischem Boden in die Schule gehen, dürfen passieren. Und Erwachsene, die einen Spezialausweis besitzen. Wer von der Hauptstraße abzweigt, trifft unweigerlich auf eine Polizeikontrolle. »Nichts mehr los«, sagt der marokkanische Polizist lächelnd. »Alle verhaftet«, fügt er stolz hinzu.

Hier in den Wäldern rund um Bel Younech hatten die Afrikaner campiert. Manche nur wenige Tage, andere mehrere Wochen. Darauf weisen die verwaisten Feuerstellen hin, die Plastiktüten und leeren Konservendosen. Nach Nationalitäten getrennt, hatten die Afrikaner sich in verschiedenen Camps eingerichtet und warteten auf Anweisungen der Schleuser. Normalerweise dürfen sich Immigranten aus anderen Teilen Afrikas nicht frei in Marokko bewegen. Die meisten halten sich illegal dort auf und können bei jeder der zahlreichen Polizeikontrollen verhaftet werden. Sie müssen also geheim von Ort zu Ort transportiert werden. Und das kann oft Wochen dauern. Von den Pensionen der Altstadt von Tanger werden sie in unauffällige Privatunterkünfte außerhalb der Stadt gebracht, und von da aus Schritt für Schritt immer näher Richtung Ceuta. 600 Leute auf verschiedene Camps in den Wäldern zu verteilen und dann zur gleichen Zeit an die Grenze zu bringen, ist eine logistische Meisterleistung. Sie erfordert eine perfekte Organisation und sehr gute Beziehungen zur Polizei.

»Ich konnte mir nicht leisten, nach Ceuta zu gehen«, sagt eine junge Frau aus Liberia, die sich mit ihrer Schwester eine winzige Wohnung in der Altstadt von Tanger teilt. Auf ihrer Schulter trägt sie einen großen Wasserkanister, den sie an der öffentlichen Wasserstelle aufgefüllt hat. »Ich war zwei Jahre in Italien, bis sie mich nach Hause deportierten. Nun bin ich wieder hier, um es noch einmal zu versuchen.« Am Hauseingang gibt ihre Schwester Zeichen, nicht weiter mit mir zu sprechen.

In einem Internet-Café treffe ich Jeffrey und Kelly aus Nigeria, zwei Studenten, wie sie sagen. »Aber offiziell sind wir politische Flüchtlinge.« Jeffrey zeigt mir eine Bestätigung vom UN-Flüchtlingswerk aus der Hauptstadt Rabat. »Das hilft nicht viel bei der marokkanischen Polizei, aber immerhin etwas.« Zweimal wurden die beiden bereits an die algerische Grenze gebracht. Wie allen Immigranten verweigerten die algerischen Behörden auch ihnen die Einreise. »Über Schleichwege sind wir wieder nach Marokko zurückgegangen«, erzählt Kelly schmunzelnd. Er zeigt mir seine mit kleinen Narben übersäten Hände. »Vom Gestrüpp und den Schlägen der Polizei.« Warum sie nicht nach Ceuta gegangen sind? Sie hätten gehen können, aber auch sie können sich die Reise nicht leisten. »1 000 oder 1 500 Euro extra nach Ceuta, das ist uns zu viel«, sagt Jeffrey.

Die beiden Studenten sind in einem von den Fluchthelfern organisierten Konvoi nach Marokko gekommen. »Wir hatten Glück, die Reise hat nur drei Wochen gedauert. Andere brauchen sechs Monate, manchmal auch mehr.« Mit 2 500 Euro hat sich jeder von ihnen dafür verschuldet. Zuhause garantiert die Familie. »So ist das eben.« Sie sind sichtlich guter Laune, obwohl sie schon ein halbes Jahr auf ihren Sprung ins goldene Europa warten. »Die, die es über den Zaun schafften, haben es gut. Bald laufen sie durch Madrid oder Barcelona«, sagt Kelly neidisch, bevor er sich wieder seinem Internet-Chat widmet.

Von Ceuta aus werden die Flüchtlinge auf die spanische Halbinsel gebracht. »Hier gibt es keinen Platz für sie«, erklärt Bruder Moreno. »Unsere Lager sind überfüllt und Ceuta ist keine Großstadt.« Drei Monate gibt der spanische Staat den Neuankömmlingen Zeit, um ihren Aufenthalt zu regeln. Fast alle bitten um Asyl, aber nur zehn Prozent werden anerkannt. Die anderen müssen das Land unverzüglich verlassen. Wer das nicht tut, wird abgeschoben, sofern Identität und Heimatland geklärt sind. Viele schlagen sich jedoch illegal durch, verkaufen Sonnenbrillen und CD-Raubkopien oder enden als Dealer und Prostituierte.

Nicht wenige hoffen darauf, Arbeit zu finden und so in den Genuss des neuen Amnestiegesetzes zu kommen. Wer nachweisen kann, sechs Monate in Spanien gelebt zu haben, und einen Arbeitsvertrag besitzt, erlangt Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Von den geschätzten 1,4 Millionen Illegalen haben bisher über 670 000 diese Gelegenheit genutzt. Für das spanische Sozialversicherungssystem bringt die Amnestie dringend benötigte Einnahmen. Die Zahl der registrierten Arbeitnehmer stieg um vier Prozent.

Die in Bel Younech verhafteten Afrikaner sitzen in Tanger im Gefängnis. »Ein paar Tage vielleicht, dann werden sie ausgewiesen. Außer ein paar Schlägen kann nichts passieren«, meint Jeffrey und schaut auf den Bildschirm seines Computers. »Dann kommen sie wieder zurück«, fügt Kelly hinzu. Bis dahin werden die Zäune in Ceuta und Melilla für mehrere 100 000 Euro ausgebaut sein.

»Ich verstehe das nicht«, sagt Bruder Fermin vom Weißen Kreuz in Tanger, auf dessen Dach sich regelmäßig Immigranten retten, die von Polizeirazzien in den Hotels der Altstadt überrascht werden. »Gewöhnlich haben die Afrikaner in ihrer Heimat, was sie zum Leben brauchen. Sie sind nicht arm, sonst würde die Mafia nie mit ihnen Verträge machen. Ich verstehe nicht, dass der Traum vom goldenen Europa immer noch so verklärt ist.«

Am Montag versuchten erneut rund 800 Flüchtlinge ihr Glück. Etwa 300 gelang es, bei Melilla die Grenze zum goldenen Europa zu überwinden.