Der Vater der Versöhnung

Die Mehrheit der Algerier stimmte bei einem Referendum dem Amnestiegesetz zu. Der Erfolg stärkt die Macht Präsident Bouteflikas. von bernhard schmid, paris

Eine wundersame Vermehrung der Wähler war beim algerischen Referendum über die »nationale Versöhnung« am Donnerstag der vergangenen Woche festzustellen. Die Nachrichtenagentur AFP sprach zunächst von einer sehr geringen Beteiligung, und Innenminister Yazid Zerhouni betonte, in der Hauptstadt Algier sei mit 71,8 Prozent ein landesweiter »Rekord« aufgestellt worden. Am folgenden Tag gaben die algerischen Behörden dann eine Wahlbeteiligung von 79,8 Prozent an, angeblich stimmten 97,4 Prozent der Vorlage von Präsident Abdelaziz Bouteflika zu.

Zweifelhaft sind vor allem die Angaben über die Wahlbeteiligung, denn viele Oppositionsparteien hatten zum Boykott aufgerufen. Ein zentraler Kritikpunkt war die Stärkung der Macht Bouteflikas, der sich mit dem Referendum einen Blankoscheck ausstellen ließ. »Das algerische Volk beauftragt seinen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika damit, alle notwendigen konkretisierenden Maßnahmen zu ergreifen«, lautet der letzte Satz der Vorlage.

Bouteflika will sich als »Urheber der nationalen Aussöhnung« präsentieren, als guter Vater der Nation, der all die zuvor zerstrittenen ideologischen Lager zusammenführt. Er profitierte 1999 davon, dass er genau zu jenem Zeitpunkt sein Amt antrat, als der offene Bürgerkrieg seinem Ende entgegenging. Dass die Algerier nicht mehr täglich um ihr Leben fürchten mussten, wurde ihm zunächst von großen Teilen der Bevölkerung zugute gehalten. Das allerdings war weniger ein persönlicher Verdienst des Präsidenten als eine Folge der wachsenden Isolation der bewaffneten Islamisten, die im Laufe des Bürgerkriegs den Großteil ihrer Anhängerschaft verloren hatten und deshalb der Staatsmacht unterlagen.

Mit dem Referendum will Bouteflika an seine anfänglichen Erfolge anknüpfen. Die Abstimmung sollte ihm vor allem als persönliches Plebiszit dienen, um die von ihm geplanten Verfassungsänderungen zu rechtfertigen. Insbesondere will er sich eine dritte Amtsperiode – die bisher von der Verfassung ausgeschlossen wird – ab 2009 ermöglichen und gleichzeitig die Mandatsdauer von bisher fünf auf sieben Jahre verlängern lassen.

Es stärkt die Macht Bouteflikas, dass die Modalitäten der »moussalaha« (Aussöhnung) unbestimmt bleiben. Bürgerkriegskämpfer, aber auch noch immer bewaffnete Islamisten sollen amnestiert werden, wie es bereits das erste Amnestiegesetz von 1999 vorsah. Anders als damals gibt es jedoch keine sechsmonatige Frist, innerhalb der das Angebot angenommen werden muss. Und während 1999 alle von der Amnestie ausgenommen wurden, die persönlich an Sprengstoffattentaten auf öffentlichen Plätzen, Massakern an Zivilisten, Morden oder Vergewaltigungen teilgenommen hatten, erwähnt die Charta Bouteflikas Mord nicht mehr als Ausschlussgrund. Damit bleiben die Mörder von Feministinnen und laizistischen Intellektuellen straffrei, und auch eine Aufklärung dieser Verbrechen wird unmöglich.

Das gilt auch für die Fälle der »Verschwundenen«, die mutmaßlich von Sicherheitskräften getötet oder verschleppt wurden. Hier wird in ebenso autoritärer Weise ein Schlussstrich gezogen, allerdings hat die Staatsmacht erstmals offiziell anerkannt, dass Menschen »verschwunden« sind, und 6 146 Fälle aufgelistet. Dieses Problem soll durch Geldzahlungen an die Familien abschließend geregelt werden, die jedoch keine Aufklärung darüber erhalten, was mit ihren Angehörigen passiert ist.

In Algerien hat dieses Vorhaben eines »doppelten Schlussstrichs« dazu geführt, dass erstmals die Angehörigen von Opfern des islamistischen Terrorismus und die Familien von »Verschwundenen« zusammenarbeiten. Die algerische Menschenrechtsliga LADDH wurde bislang von Gegnern der staatsterroristischen Methoden des Regimes dominiert. Am vorvergangenen Wochenende wurde jedoch eine neue Führung gewählt, die auch die Angehörigen von Opfern des Islamismus repräsentiert.

In Frankreich und Deutschland jedoch wurde diese doppelte Kritik von politischen Kräften, die hauptsächlich im rot-grünen und linksliberalen Spektrum angesiedelt sind und denen sich einige Menschenrechtsorganisationen angeschlossen haben, höchst einseitig übermittelt. Die französische Tageszeitung Libération, die taz oder die Webpage Algeria Watch rückten vor das Problem der »Verschwundenen« in den Mittelpunkt und behaupteten, es gebe eine Parallele zu den ehemaligen Militärdiktaturen in Chile und Argentinien. Die gemeinsame Problematik sei, dass Militärdiktaturen ihre eigenen Verbrechen amnestierten, auf Kosten der geschundenen Opposition.

Vor wenigen Jahren war in Frankreichs politischer Klasse und bei manchen Intellektuellen noch die Behauptung en vogue, die Massaker der GIA würden in Wirklichkeit von Geheimdiensten des algerischen Regimes begangen. Diese längst widerlegte Behauptung, die die islamistischen Verbrechen leugnet oder zumindest ihre Bedeutung herunterspielt, wurde vorige Woche von Libération und taz noch einmal wiederholt.

Die linke Opposition in Chile und Argentinien massakrierte nicht Lehrerinnen, Schriftsteller und andere »Glaubensfeinde«. Und im Gegensatz zum algerischen Regime wussten die lateinamerikanischen Militärdiktaturen im Kampf gegen die »kommunistische Gefahr« und die radikale Linke nahezu alle westlichen Großmächte hinter sich. Die algerische Armee dagegen wurde in den neunziger Jahren keineswegs einmütig vom Westen unterstützt. Vielmehr stellten sich die USA und Frankreich abwechselnd auf die Seite des Regimes und der Islamisten.

Sie wollten den algerischen Staat zumindest geschwächt sehen, da in dem nordafrikanischen Land noch zu viele soziale Errungenschaften der staatssozialistischen Periode existierten und die »Öffnung« der Wirtschaft noch nicht ausreichend durchgesetzt war. Der damalige Sprecher der besonders gewalttätigen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA), Anouar Haddam, stand noch bis 1996 in Washington in regelmäßigem Kontakt mit dem Außenministerium.

Die These, dass allein der algerische Staat die Verantwortung für die Verbrechen während des Bürgerkrieges trägt, entspricht den politischen Interessen der europäischen Sozialdemokratie. Sie dient als »politisch korrekte« Begründung für die Forderung nach einer Reform des auch ökonomisch weiterhin einflussreichen Staatsapparats und war in jüngerer Vergangenheit ein Druckmittel im Umgang mit Algerien, dem eine Einstufung als »Schurkenstaat« angedroht wurde. Das geschah etwa während der Verhandlungen über den Assoziierungsvertrag mit der EU, der am 1. September dieses Jahres in Kraft trat und eine weitgehende »Öffnung« der algerischen Ökonomie besiegelt.