Beleidiger des Türkentums

Urteil gegen Hrant Dink von ömer erzeren

Der starke Demokratisierungsschub in der Türkei in den vergangenen Jahren geht einigen gänzlich gegen den Strich. Die Waffenschieber beklagen sich wahrscheinlich klammheimlich über schlechte Geschäfte. Politiker, die gut davon lebten, die Suppe nationalistischer Paranoia für die Massen umzurühren, sind auch betroffen. Wie schön waren die alten Zeiten, wo im Fließbandverfahren die politische Opposition mundtot gemacht wurde, mag mancher denken. Die guten, alten Zeiten sind vorbei, und das Feuer reicht nur noch für ein paar Schüsse. Diese werden derzeit abgegeben.

Vergangene Woche wurde der Herausgeber der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos, Hrant Dink, zu einer sechsmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Die Verurteilung erfolgte nach Paragraf 301 des Strafgesetzbuchs wegen »Beleidigung des Türkentums«. Viele Paragrafen, die politisch einschüchtern sollten, sind Staatsanwälten und Richtern durch die Strafrechtsreform aus den Händen gerissen worden. Paragraf 301 ist eine der wenigen verbliebenen Klauseln. Deshalb sind als Opfer Symbolfiguren gefragt, mit deren Verurteilung das Entsetzen über den Wandel der Türkei zum Ausdruck gebracht werden kann. Die Anklage gegen den diesjährigen Friedenspreisträger Orhan Pamuk – sein Prozess wird im Dezember beginnen – war einer der ersten Schüsse. Es folgte die Verurteilung von Hrant Dink.

Dink, Armenier und gebürtiger türkischer Staatsbürger, war eine der wichtigen Figuren, die eine historische Aussöhnung von Türken und Armeniern anstrebten. Die Aufarbeitung der Ereignisse von 1915 reduzierte er nicht auf die Definitionsfrage von Völkermord, sondern debattierte das konkret Geschehene und die Folgen der historischen Last für die türkische Gesellschaft, für Armenier in der Türkei und der Diaspora. Gerade in der armenischen Diaspora war Dink nicht gerade beliebt. Neben der radikalen Kritik an der offiziellen Geschichtsschreibung in der Türkei – zuletzt beteiligte er sich an der Armenien-Konferenz in Istanbul, welche die offizielle Ideologie entblößte – griff er auch diejenigen an, die armenische Identität ausschließlich über den Völkermord definierten.

Es ist eine Skurrilität der Geschichte, dass Dink wegen eines Artikels verurteilt wurde, den die Richter wahrscheinlich gar nicht verstanden haben. Die vom Gericht eingesetzten Sachverständigen hatten in ihrem Gutachten zum Ausdruck gebracht, dass der Straftatbestand nicht erfüllt sei. Es ist höchst außergewöhnlich, dass ein Gericht ein solches Gutachten ignoriert und den Angeklagten verurteilt. Das hat mehr mit Politik als mit Recht zu tun.

Das Urteil wird einem Revisionsgericht vorgelegt und ist noch nicht rechtskräftig. Die politische Entwicklung wird entscheidend dazu beitragen, wie das letztinstanzliche Urteil ausfällt.

Einst tabuisierte Themen kommen heute im Parlament und in den Massenmedien zur Sprache, sei es die Kurden- oder die Armenierfrage. Die einst herrschende Ideologie, die Menschen der Türkei als monolithischen Block wahrzunehmen, ist im Zersetzungsprozess. Aleviten, die sich in ihrer Religionsausübung diskriminiert fühlen, und Schwule und Lesben, die sich wegen ihrer sexuellen Orientierung benachteiligt sehen, klagen vor Gerichten. Je stärker die Debatte, desto schwächer werden die Kräfte, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen. Hrant Dink ins Gefängnis stecken? Sie haben nicht mehr die Macht dazu.