Eingerichtet in Ruinen

In Bremen regiert seit zehn Jahren eine große Koalition freiwillig und harmonisch. Sie pflegt die Pleite des Landes zur Freude des Kapitals. von christoph spehr

Manche sagen, die Avantgarde des politischen Europa sei Italien: Alles, was passiere, passiere dort ein paar Jahre früher als in anderen Ländern. Andere sagen, das sei Holland. Alles Quatsch. Das wahre Land der politischen Avantgarde ist Bremen. Denn hier ist alles schon da gewesen.

Krise der öffentlichen Haushalte? Bremen ist seit 13 Jahren pleite, ganz offiziell. Standortwettbewerb? Das hatten die Kommunen schon lange mit dem Gewerbesteuer-Dumping vorgemacht. Bremen, als Stadtstaat dafür prädestiniert, dass das Kapital ins steuerlich billigere Umland flüchtet, war das erste Opfer. Im Jahr 1992 wurde der Haushaltsnotstand erklärt. Nichts ging mehr, hieß es. Wir schließen daraus, dass »nichts« lange so weitergehen kann.

Die Bundesregierung kam – nicht ohne Mithilfe des Bundesverfassungsgerichts – zu der Einsicht, dass Bremen (wie auch das Saarland) sich aus eigener Kraft nicht aus der Verschuldung befreien könnte. Also bezahlte der Bund die Schulden, 8,5 Milliarden Euro, verteilt über zehn Jahre, beginnend ab 1994. Unglücklicherweise gelangte das Geld auf seinem Weg vom Bund zur Bank zwischendurch in die Hände der Bremer Landesregierung, und diese Hände wurden gleich feucht. So viel Geld! Und das sollte man einfach zur Bank tragen?

Da kam es gelegen, dass 1994 die Ampel-Koalition vorzeitig zerbrach. Die Grünen hatten der EU ein paar Flächen als Vogelschutzgebiete gemeldet, während die FDP diese Flächen gerne als neue Gewerbegebiete ausgewiesen hätte. Wo das mit den Tieren eh schon eine Plage ist für Bremen. Der größte Anarchist der Stadt ist der Schlammpeitziger, ein tapferer kleiner Fisch, der im Hollerland – und nur dort – haust und dadurch dessen Trockenlegung und »Erschließung« blockiert.

Die Ampel war also tot, und ein Strom öffentlichen Geldes sollte sich vor den Nasen der Senatsmitglieder, unter den gierig-glasigen Augen der lokalen »Wirtschaftskreise«, vorbeiwälzen, um im Orkus der Schuldenrückzahlung zu verschwinden. Was tut man dagegen? Man bildet eine große Koalition, eine »Koalition der Sanierung«. Arm in Arm nahmen SPD und CDU das Geld, liefen in eine dunkle Seitenstraße und riefen den Mächten der Finsternis zu: Überfallt uns! Und so geschah es. Wir schließen daraus, dass auf die Mächte der Finsternis gewöhnlich Verlass ist.

Eine große Koalition hat großen Hunger, denn sie muss besonders viele Klientelgruppen versorgen. Hinzu kommt, dass das Kapital nicht wirklich Interesse an einer Sanierung der öffentlichen Finanzen hat. Wenn der Staat pleite ist, dann tut er »gezwungenermaßen«, was er sonst freiwillig tun würde. Er kürzt die Sozialausgaben, lässt die öffentlichen Gebäude verrotten und vernachlässigt das Bildungswesen, also all die Dinge, die Neoliberale so schick finden. Deshalb finden Neoliberale »Sanierung« nur gut, solange sie nicht zu Ergebnissen führt. Geld verschieben und pleite sein, das ist es, was sie vom Staat erwarten.

Genau das schaffte die große Koalition in Bremen in bewundernswerter Weise. Das Geld aus Berlin dürfe nicht einfach zur Abzahlung der Schulden verwendet werden, hieß es. Investieren müsse man es, das werde die Wirkung vervielfachen! Und so plante und bezahlte die große Koalition, beraten vom Kapital, eine lange Reihe von Investitionsruinen, die in der Republik ihresgleichen suchen: das Musicaltheater, das nach kurzer Zeit pleite ging; die »International University Bremen« (IUB), von Eingeweihten als verschultes Irrenhaus beschrieben; und den Space Park, ein gigantisches Erlebniszentrum mit Star-Trek-Holodeck, Trägerrakete, Space-Achterbahn und Imax-Kino, umgeben von 44 000 Quadratmetern Einzelhandelsfläche, ausgelegt für 1,3 Millionen Besucher pro Jahr. Bloß kamen die nicht. Die hätten aber auch gar keinen Platz darin gehabt, und die Schlangen vor den vier Attraktionen hätten bis Bremerhaven gereicht. Kein einziger Quadratmeter Ladenfläche wurde vermietet; wenn das Kapital selbst bezahlen soll, ist es nämlich schlau. Also steht das Monstrum leer, und die Republik konnte über seine Dimensionen nur in einer der letzten »Tatort«-Folgen einen Eindruck gewinnen. Geld verbraucht hat der Space Park dennoch, 200 Millionen aus der Kasse der Stadt und 450 Millionen von der Dresdner Bank. Insofern hat er seinen Zweck erfüllt. Direkt konnte man das Geld der Bauindustrie ja nicht geben.

Zu schade, dass der »Ocean Park«, der für Bremerhaven geplant war, an einer Bürgerinitiative scheiterte. Auch er wäre eine schöne Ruine geworden. Wir schließen daraus: Eine Große Koalition muss protzen und handeln. Oder, in den Worten der Bremer Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Karoline Linnert: »Große Jungs machen große Haufen.«

Heute kann die große Koalition zufrieden auf ihr Werk schauen: Die Schulden sind nicht nur nicht geringer geworden, sondern sogar noch angewachsen. 20 Prozent des Landeshaushalts gehen in bewährter Weise direkt an die Banken, denn irgendwo muss das Land seine Kredite ja aufnehmen. Der Landesrechnungshof, sozusagen die Weltbank fürs Lokale, wacht diktatorisch darüber, dass Bremen das Bundesland mit den ältesten Lehrern sowie den marodesten Schuldächern bleibt und dass ein Bremer Kita-Kind auf höchstens 80 Prozent der Bodenfläche eines niedersächsischen gehalten, pardon, betreut wird. Bremen muss glaubwürdig sparen, heißt es, denn man plant ja schon den nächsten Gang zum Bundesverfassungsgericht. Die Sanierung muss weitergehen. Bildung ist »konsumptiv«, also schlecht. Space Parks sind »investiv«, also gut. Wir schließen daraus: Das erste, was eine Große Koalition wegsaniert, ist die öffentliche Vernunft.

Und dann gibt es noch die urban legends. In Bremen ist das der »Kanzlerbrief«. Dieses mystische Dokument soll die Zusicherung enthalten haben, Bremens Zustimmung im Bundesrat zur Steuerreform im Jahr 2000 mit jährlich 500 Millionen aus dem Bundeshaushalt zu belohnen, als Anschlussfinanzierung, sobald das Geld zur Entschuldung ausbleibt. Das ist inzwischen eingetreten. Trotz mehrerer spiritistischer Sitzungen konnte sich die noch amtierende Bundesregierung jedoch an keinen Kanzlerbrief erinnern.

Mit dem geheimnisvollen Kanzlerbrief hat sich eine kleine Lebenslüge der großen Koalition in Luft aufgelöst, und der Alt-Bürgermeister Henning Scherf nutzte vor drei Wochen den Zeitpunkt zum Abgang. Denn auch die große Lebenslüge der großen Koalition ist in Gefahr. Das Bundesverfassungsgericht könnte entscheiden, dass der Bund Bremen nicht weiter Geld zur Schuldentilgung überweisen soll. Mit diesem Problem muss sich nunmehr Scherfs Nachfolger Jens Böhrnsen herumschlagen.

Übrigens, psst, kleines Geheimnis: In Bremen wäre eine große Koalition rechnerisch nie nötig gewesen. Rot-Grün hätte immer eine Mehrheit gehabt, seit 1999 sogar eine recht komfortable. Woraus wir schließen: An rechnerischen Mehrheiten ist noch keine große Koalition gescheitert.