Kein Grund zu träumen

Die große Koalition könnte besser funktionieren, als es heute erscheint. von jesko bender

Selbstverständlich kann man sich jetzt mit dem beliebten Vorher-Nachher-Vergleich vergnügen. »Eine große Koalition mit der Union wird es mit meiner SPD nicht geben«, sagte Gerhard Schröder, und Angela Merkel sagte das Gleiche für die CDU. Nichts wurde vor der Wahl für unwahrscheinlicher gehalten als ein Bündnis der Union mit den Sozialdemokraten. Daraus könnte man folgern, dass eine große Koalition von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Das ist aber ebenso nutzlos wie naiv.

Es ist zwar unbestritten, dass keine der beiden Parteien Lust auf diese Zusammenarbeit hat, den pragmatischen Wert dieses Projekts aber haben beide inzwischen erkannt. Gerade die CDU/CSU hat einen Wahlkampf geführt, der in seiner ideologischen Überhöhung an die Kampagne der SPD und der Grünen vor der Bundestagswahl 1998 erinnerte: Der Wechsel müsse her, Deutschland brauche keine halben Sachen, so lautete der Tenor bei der Union. An der Parteizentrale der CDU in Berlin prangte die Parole: »Ein neuer Anfang«. Dass diese Überhöhung nicht zum Wahlsieg verhalf, hat die Union allerdings nach der Wahl nur langsam begriffen.

Unterdessen erkannten die Sozialdemokraten schnell das Gebot der Stunde und trieben den Preis für die große Koalition in die Höhe. Unterhaltsam und konsequent fing damit noch am Wahlabend Gerhard Schröder in der »Berliner Runde« der ARD an. Die Union musste derweil erst einmal von ihren brachialen Reformvorstellungen Abstand nehmen, um die Möglichkeiten der anstehenden, pragmatisch orientierten großen Koalition überhaupt wahrzunehmen.

Mittlerweile ist auch in der Union das Wahlergebnis verstanden worden. Hauptsache, die Wirtschaft brummt und es gibt Arbeit, denken die Wähler. Reformen ja, aber bitte nicht auf die ganz harte Tour. Dieses Denken eröffnet auch der Union einen großen Spielraum, insbesondere, wenn die zukünftigen Reformen von einer großen Mehrheit im Bundestag beschlossen werden und die SPD und die Sozialpolitiker der Union dahinter stehen.

Aber nach wie vor ist die SPD einen Schritt weiter als die Union, die schleunigst zusammengestellte Ministerriege zeugt davon. Für die harte, aber angeblich notwendige Reformpolitik haben die Sozialdemokraten bereits vor der Wahl geworben. Nun soll sie fortgesetzt werden. An der SPD dürfte ein vierjähriges Regierungsprojekt nicht unbedingt scheitern. Vielleicht gelingt den Sozialdemokraten in dieser Koalition sogar das, was ihr in der Zusammenarbeit mit den Grünen nicht möglich war: der programmatische Umbau der Partei hin zum New-Labour-Modell von Tony Blair.

Dieses Modell bevorzugte Gerhard Schröder schon immer, nur seiner Partei ging der Wandel zu schnell. Er hätte sich für diesen Umbau der Sozialdemokratie einen anderen und günstigeren Zeitpunkt aussuchen müssen als den der Regierungsübernahme nach der Ära Helmut Kohls. Eine Zeit der Opposition wäre hierfür besser geeignet gewesen, oder eben jetzt die Teilnahme an einer Koalition.

Die Linkspartei mag eine der Folgen dieses ungünstigen Zeitplans sein. Sie existiert jetzt, doch diejenigen Sozialdemokraten, die vielleicht noch zu ihr hinüberwechseln, dürften in der SPD niemanden mehr nervös machen. Der SPD stehen vier Jahre ohne die ständigen Kritiker und Nörgler bevor, die die Aufbruchstimmung nach dem Regierungswechsel 1998 trübten.

Es ist unbestritten, dass es programmatische Unterschiede zwischen der SPD und der Union gibt. Und dennoch konnten sie sich bereits vor dem Beginn der Koalitionsverhandlungen in wichtigen Punkten einigen. So sollen die Steuerfreiheit für Sonntags- und Nachtarbeit und die Tarifautonomie erhalten bleiben. Die entscheidenden Projekte, die die rot-grüne Regierung in ihrer Zeit verwirklicht hat, hat sie gemeinsam mit der Union durchgesetzt: Hartz IV und die Gesundheitsreform. Auch das sollte man bedenken, wenn man vorschnell das Scheitern der großen Koalition prophezeit.

Keine der beiden Parteien hat seit der Bundestagswahl bestritten, dass eine Große Koalition nur eine pragmatische Lösung sei. Genau darin aber liegt die Chance für diese Zusammenarbeit: gemeinsam eine Reformpolitik zu verkaufen, die notwendig »für die Menschen in Deutschland« sei, wie Angela Merkel es gerne ausdrückt. Um welche konkreten politischen Projekte es auch Streit geben wird, die SPD und die CDU/CSU könnten sich in den kommenden Jahren besser verstehen, als man es sich heute vorstellen mag.