Soll gar nicht jedem gefallen

Die Ausstellung »Free Kick« im Rahmen der Biennale für Moderne Kunst in Istanbul will wehtun. von constanze letsch

Dieses Jahr zeigt sich die Biennale für Moderne Kunst in Istanbul von einer neuen Seite: cooler, offener, lässiger. Die diesjährigen Kuratoren, Vasif Kortun und Charles Esche, haben die Ausstellungen von den in den vorhergegangenen Biennalen üblichen touristenfreundlichen und prestigeträchtigen Ausstellungsorten in Gebäude geholt, die auf eine andere, vielleicht interessantere Weise das Bild der Stadt prägen: renovierte Lagerhallen am Hafen, eine ehemalige Bank, ein Tabakwarenlager, ein altes mehrstöckiges Wohnhaus.

Und noch etwas ist neu: Zum ersten Mal ist die Biennale auch offen für verschiedene Gastprojekte, die in der so genannten Hospitality Zone der Biennale ausgestellt sind.

Unter den Geladenen befindet sich neben der Hafriyat Group mit ihrem Projekt »Production Fault« auch die Ausstellung »Free Kick«. Die dort gezeigten Arbeiten setzen sich mit der politischen und sozialen Lage in der Türkei auseinander. 34 etablierte oder noch unbekannte Künstler, Künstlerinnen und Künstlergruppen aus verschiedenen Städten der Türkei nähern sich in Bildern, Videos, Installationen und Fotografien alltäglichen, dramatischen, brisanten und offiziell gern übergangenen Realitäten. Es bleibt hier nichts unangetastet: Militarismus, Heterosexismus, Nationalismus, Staatsmacht und Staatsterror, Folter, die Kurdenfrage, PKK, Patriarchat, der EU-Streit, der Islam, nationale Identitäten, traditionelle Familienstrukturen. »Free Kick« ist kein höflicher Gast.

Und das Unverschämteste ist, dass die Arbeiten es an dem nötigen Ernst und der erwarteten Sensibilität fehlen lassen, die man bei der Diskussion dieser Themen erwartet hätte. Die ausstellenden Künstler und Künstlerinnen bedienen sich der effektiv-konstruierten Semiotik der Massenmedien, schillernder Werbeästhetik, Spott und Ironie, entwaffnender Direktheit und knallbunter Pop Art, um die Besucher der Biennale aus ihrer Gewohnheit zu reißen, moderne Kunst als unverständliche, aber leicht verdauliche Unterhaltung zu konsumieren.

Der Kurator von »Free Kick«, Halil Altindere, fiel schon früher mit seinen Arbeiten als Künstler auf und sorgte für Kontroversen, indem er zum Beispiel Versionen türkischer Geldscheine entwarf, auf denen sich der geheiligte Vater der Nation, Atatürk, die Augen zuhält oder auf denen die Porträts verschwundener Personen zu sehen waren und zu lesen war: »Willkommen im Land der Verlorenen«. »Free Kick« ist die zweite große Ausstellung, die er organisiert.

Er rückt nur zögernd damit heraus, dass er aus Mardin stammt. Zu viele Journalisten und Kritiker hätten ihn damit sofort in die Kurdenschublade gesteckt und ihm ein Trauma bescheinigt, das sie dann auch in allen seinen Arbeiten und Ausstellungen zu finden glaubten. Er möchte nicht als kurdischer Künstler oder als Kurator, der sich nur mit kurdischer Identität auseinandersetzt, gesehen werden. Die Ausstellung sei politisch, sagt er. Aber es sei eine politische Ausstellung, die sich mit sehr vielfältigen Fragen beschäftigt, kein Manifest einer kollektiven Identitätssuche.

Er ärgert sich über die konservativen, elitären Kunstschaffenden, Kuratoren und Kritiker in der Türkei: »Es gibt über 200 Galerien im Zentrum der Stadt. Aber nur wenige davon haben ein Interesse daran, provokative und neue zeitgenössische Kunst zu zeigen. Die Biennale ist eine sehr gute Gelegenheit – und fast die einzige –, unkonventionellen und noch unbekannteren Künstlern und Künstlerinnen eine Chance zu geben, ihre Arbeiten auszustellen. ›Free Kick‹ ist auch ein wütender Tritt gegen die Arroganz und Geschlossenheit dieses stagnierenden Kunsttheaters.«

Trotzdem ist auch die Biennale nur ein geduldiger, aber etwas überforderter Gastgeber, der nicht genau weiß, wie er auf den lauten und unhöflichen Gast reagieren soll. »Die Ausstellung ist zwar formell ein Teil der Biennale, aber sie hat nichts mit der Biennale zu tun. Ich habe dieses Projekt schon lange vor der Einladung in die Hospitality Zone vorbereitet«, sagt Halil. »Die Teilnahme an der Biennale kam für uns alle als eine Überraschung. Jetzt muss man abwarten, wie die Ausstellungen aufeinander wirken, was dabei herauskommen kann. Aber vorrangig ist das für mich nicht.«

Ein Werk sorgte jedoch noch vor der offiziellen Ausstellungseröffnung für heftige Diskussionen unter den Organisatoren der Biennale: »Fedai« (Der Wachsoldat) von Burak Delier. Ein Foto, auf dem ein wachhabender Soldat vor dem Dolmabahce-Palast zu sehen ist, einem Ort, an dem die nationale Seele hängt. In diesem Palast starb am 10. November 1938 Atatürk. Die Haltung des Wächters ist perfekt inszeniert, soldatisch stramm, eine Hand hält das Gewehr, die andere ist hinter seinem Rücken angewinkelt, sein Blick ist ungerührt und geht starr geradeaus. Ihm gegenüber, wie ein Spiegelbild, ein junger Mann, der in seiner hinter dem Rücken angewinkelten Hand ein Hackmesser hält, offensichtlich eine Attrappe. Dem Künstler zufolge drückt das Bild vor allem die Infragestellung der psychischen und physischen Gewaltausübung von Militär und Staatsmacht aus. In der Türkei ist das ein Thema von besonderer Aktualität und extremer Brisanz: Das hier scheinbar unantastbare Militär spielte und spielt in der Geschichte der türkischen Republik eine sehr entscheidende Rolle. Noch wenige Wochen zuvor, zum 25. Jahrestag des Militärputsches vom 12. September 1980, wurde erneut, jedoch wieder ohne Erfolg, die Forderung laut, endlich die verfassungsmäßig garantierte Immunität der Putschisten aufzuheben.

Der Co-Kurator der Biennale, Vasif Kortun, verband andere Assoziationen mit der Fotografie: Der Vollbart des jungen Mannes erinnere zu sehr an das mediatisierte Bild des islamistischen Terroristen, und das türkische Militär sei ein außerordentlich sensibles Thema. Man wolle nicht in eine Lage geraten, die ein falsches Bild der Biennale vermitteln könnte.

Nachdem nur wenige Tage vor der Eröffnung der Biennale Faschisten eine Fotoausstellung, die die Hetzjagden des aufgebrachten türkischen Mobs auf griechische und armenische Bewohner des Stadtviertels Pera (das heutige Beyoglu) im September des Jahres 1955 zum Thema hatte, überfallen hatten, wurden auch unter den Organisatoren und Ausstellern auf der Biennale nervöse Stimmen laut.

Nach mehreren Tagen heftiger Diskussionen wurde das umstrittene Bild, noch zwei Tage vor der Eröffnungsfeier, von Burak Delier selbst abgenommen: »Ich war wütend und enttäuscht.« Aber er versucht, der Sache etwas Positives abzugewinnen. »Immerhin wird jetzt über das Bild geredet. Wer weiß, wahrscheinlich hätte es weniger Aufmerksamkeit bekommen, wenn wir es hätten hängen lassen.«

»Es wurde so viel Panik verbreitet, sehr viel hinter vorgehaltener Hand geredet. Es herrschte regelrecht Paranoia«, meint Halil Altindere im Nachhinein. Er zuckt mit den Schultern: »Ich bin der Meinung, dass einfach überhaupt nichts passiert wäre. In einer Veranstaltung wie der Biennale bist du unantastbar.«

Wäre damit die Biennale nicht der ideale Ort für politische Kunst, für politische Diskussion? Halil überlegt kurz, schüttelt dann den Kopf. Zeitgenössische Kunst sei in der Türkei viel zu unpopulär, um wirklich jemanden zu erreichen. Musik, Filme und Bücher seien die Medien, die hier Skandale und Verbote zu fürchten hätten. »Auch aus diesem Grund sind unsere Provokationen nicht wirklich gefährlich«, fügt er hinzu. »Die Obrigkeit nimmt moderne Kunst als eine Möglichkeit, soziale und politische Probleme zu thematisieren und zu benennen, weder ernst noch wahr. Sie wissen einfach nicht, wie sie mit uns umgehen sollen. Diese Form politischen Ausdrucks ist noch zu neu. Es kann sein, dass sich das irgendwann einmal ändert.«

Die türkische Presse versucht, die Ausstellung zu ignorieren, scheint bestenfalls verwirrt. Eine Journalistin der linksliberalen Zeitung Radikal verriss »Free Kick« als ordinär direkt, als zu flach, als hässlich. Ihr fehlten die Metaphern und die abstrakte Tiefe, die zeitgenössische Werke ihrer Meinung nach haben sollen. Das sei doch keine Kunst, schreibt sie. Halil Altindere lacht. Er wisse nicht, was sie meine, sagt er. »Free Kick« sei voller Metaphern und Anspielungen und ganz bestimmt sehr tiefgründig. Auf die Frage, ob er denn nicht erwartet, wegen der Radikalität der Ausstellung im Nachhinein noch Probleme zu bekommen, antwortet er gelassen: »Ich denke nicht über Probleme nach, die ich vielleicht bekommen könnte, wenn ich dies oder jenes mache. Wenn ich so an eine Sache heranginge, würde ich überhaupt nichts mehr tun. Wenn ich etwas zu sagen habe, sage ich es. Als Künstler und als Kurator.«

»Free Kick«, im Rahmen der Istanbul Biennale, noch bis zum 30. Oktober, freekicksergisi@gmail.com